Nicole Seifert - Frauen Literatur

Begonnen von Inge78, 19. Juli 2022, 19:13:52

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Inge78

 " "Sie lassen die zynische, kritische, machthungrige Frau zu Wort kommen, die aggressive, vulgäre Frau, die unzufriedene, impulsive und sexuell aktive Frau. Es spricht die egoistische, unberechenbare, irrationale Frau. Die kühle, die peinliche, die wütende Frau. Es sollen alle Anteile laut werden, die wir sonst vor der Welt verbergen suchen." ... So was wollen Sie gar nicht hören und schon gar nicht lesen? Genau DAS ist übrigens diese Misogynie."

In ihrem Sachbuch schreibt Autorin Nicole Seifert provokant über Frauen in der Literatur. Über Unterdrückung und Diskrimierung, über Ignoranz und Missgunst. Sie macht aufmerksam auf vergangenen und immer noch alltäglichen "Genderrassismus". Sie erzählt, wie Autorinnen bewusst klein gehalten wurden, wie viele Bücher von Autorinnen in Vergessenheit geraten sind. Und wie unausgeglichen das Geschlechter Verhältnis noch immer ist. Das Ganze bereitet sie anhand vieler Beispiele auf, sie lässt Frauen zu Wort kommen, es gibt unzählige Zitate und kurze Buchbeschreibungen. Und es gibt erschreckend viele Zitate sog. Buchkritiker, die nicht unvoreingenommen kritisieren. Und ich habe definitv die ein oder andere neue Lektüre für mich entdeckt. So weit zu gehen wie die Autorin und eine zeitlang alle Autoren von meiner Leseliste zu streichen mag ich nicht gehen. Aber meine Aufmerksamkeit wurde geschärft und ich achte schon jetzt im Buchladen mehr auf eine Frauenquote, auf die Verteilung von Autoren und Autorinnen innerhalb der Genres und auf das Verhältnis im eigenen Bücherregal.
Manches war mir zu streitlustig erzählt, einige Beispiele waren einseitig bzw könnten so auch auf bestimmte Autoren angewendet werden. Wobei die Autorin schon auch auf andere Diskriminierungen hinweist, zB bei den People of Colour.
Aber das Grundproblem ist erschreckend real, immer noch. Ich hoffe das viel mehr Leser*innen auf dieses Problem aufmerksam werden und ihr Leseverhalten überdenken. Natürlich fängt das Problem bereits "oben" an, in der Auswahl der Verlage, bei Preisjurys, bei Kritikern. Aber auch wir Leser können mitwirken, können kritisch hinterfragen. Ich hatte bereits eine interessante Unterhaltung mit der Buchhändlerin meines Vertrauens über die sog. "Frauenromane", die vermeintlich leichte Urlaublektüre, die "Pastellromane", die zu größten Anteilen von Autorinnen oder eben weiblichen Pseudonymen geschrieben werden. Ich mag auch solche Romane, Unterhaltungsliteratur, ich mag Liebesromane, gar keine Frage. Und das sollte nicht als "Nicht-Literatur" abgewertet werden und schon gar nicht als "Frauenromane" betitelt werden, denn wer entscheidet denn, was Frauen schreiben und lesen sollten. Nur eins der Probleme, die in diesem Buch angesprochen werden. Es war absolut interessant und hat mir viele neue Impulse gegeben. Absolute Lese-Empfehlung, übrigens nicht nur für Frauen. Und am Ende gibt es , fast als Bonus, eine tolle Leseliste.

[note2]
Words are, in my not-so-humble opinion, our most inexhaustible source of magic. Capable of both inflicting injury, and remedying it - Albus Dumbledore

Im finst´ren Förenwald, da wohnt ein greiser Meister. Er ficht gar furchtlos kalt sogar noch feiste Geister.
(aus "ES" von Stephen King)

Fiktion ist wie ein Spinnennetz, das, auch wenn nur vielleicht ganz leicht, an allen vier Ecke des Lebens befestigt ist.
- Virginia Woolf

Christiane

Heute endlich auch von mir noch mein Leseeindruck  :rollen: :rotwerd::

Mich hat das Buch von Nicole Seifert ein bisschen in meine Studienzeit zurückversetzt, wo wir im Frauenreferat des AStA auch einige feministische Bücher gemeinsam gelesen haben, wo dieser Genderrassismus natürlich ein wichtiges Thema war (noch dazu an einer vorwiegend technisch-naturwissenschaftlich orientierten Uni mit einem unterirdisch kleinen Frauenanteil). Anhand vieler Beispiele zu lesen, dass sich in den letzten 30 Jahren so wenig verbessert hat, war schon deprimierend. Man hat ja oberflächlich gesehen oft das Gefühl, dass wir dies Thema hinter uns lassen können. Aber die strukturell fest verankerte Übermacht der Männer ist immer noch frappierend. Leselisten auch heutiger Schüler und Schülerinnen sind weiterhin sehr Autorinnen-arm.
Und was ich fast noch schlimmer finde: Wenn Männer über 'Männerthemen' schreiben, heißt das Literatur, wenn Frauen über 'Frauenthemen' schreiben, ist das Trivialliteratur, Frauenroman, ... wird abgewertet, auf eine geschlechtersortierte Zielgruppe festgelegt, oder oft genug auch offen sexistisch kommentiert.
Ja, Nicole Seifert schreibt provokant. Aber ich fürchte, mit leisen Tönen, mit Bitten und höflichen Hinweisen kommt frau nicht weit. Die Autorin kann (hoffentlich) viele Menschen aufrütteln, kann aufmerksam machen und dazu beitragen, dass Leser und Leserinnen den Aspekt Gendergleichberechtigung mit ins Auge fassen.
Seifert bietet aber nicht nur gut recherchierte Kritik, die mit vielen Fallbeispielen und Zitaten untermauert wird. Sie liefert auch immer wieder Lesetipps und am Ende des Buches eine Leseliste, aus der ich gern in nächster Zeit das ein oder andere Buch lesen möchte.
Eine wichtige Idee, auf die sie hinweist, ist 'Die Kanon', ein weiblicher Gegenentwurf zu all den Literaturlisten, der aber nicht nur Autorinnen, sondern auch Sportlerinnen, Forscherinnen, Wissenschaftlerinnen,... aus allen möglichen Bereichen des Lebens aus dem Schatten holen will. Ja, auch das ist einseitig. Aber es ist nur ein Staubkorn neben all den männerdominierten Kanons, die es seit langer Zeit gibt.
Was mich beim Lesen unendlich wütend gemacht hat, ist die Überlegung, wie dieser Umgang mit weiblichen Themen, mit den Leistungen, die Frauen erbringen, unser aller Leben beeinflusst. Wie es Mädchen dazu bringt, sich weniger zuzutrauen, wie es ihr Selbstbewusstsein untergräbt, wie es ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst und verbiegt.
Daher von mir eine dicke Leseempfehlung für alle Frauen, aber auch und besonders für Männer.

[note1]
Staunt euch die Augen aus dem Kopf, lebt, als würdet ihr in zehn Sekunden tot umfallen. Bereist die Welt. Sie ist fantastischer als jeder Traum, der in einer Fabrik hergestellt wird.
Ray Bradbury (1920 - 2012)