Dörte Hansen - Mittagsstunde

Begonnen von Esmeralda, 12. April 2021, 09:14:02

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Esmeralda

ZitatDie Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

Mir hatte ja schon Dörte Hansens Debütroman "Altes Land" sehr gut gefallen; aber dieses hier toppt das Ganze für mich nochmal.

Auch dieser Roman hat mich ganz ganz tief berührt.
Ein Buch, völlig stimmig in Sprache und Bildern, die wunderbar in den Kopf gezaubert werden; jedes Wort passt, trifft und berührt.
Eine Hommage an die bäuerliche Welt und über den Niedergang derselben: das Dorf verändert sich, zunächst unmerklich, dann immer gravierender und mit ihm die Menschen.
Die Schilderung des dörflichen Lebens und der Menschen, die dort leben, waren immer wunderbar emotional und warmherzig.
Hinzu kommen immer wieder Sätze in "plattdüütsch", welches die beschriebenen Personen nur noch sympathischer machen.

Fazit: Für mich eine der seltenen Buchperlen, die man einfach gelesen haben muss.

Hoffentlich schreibt Frau Hansen noch viele solcher tollen Bücher.

[note1]
Life is too short to read bad books. 

Kathrin

Das hast Du schön geschrieben, Sandra. Ich mochte das Buch auch sehr, nicht ganz so sehr wie "Altes Land" aber es hält nach. Und ich was hab ich den alten Sönke so geliebt mit seinem "Hä!"
Rock the Night!

Kathrin

Und hier nun auch meine Meinung:

,,Mittagsstunde" von Dörte Hansen ist leider erst der zweite Roman der Autorin, den ich gelesen habe, aber sicherlich nicht der letzte, sie muss nur weiter Romane schreiben, die mich so begeistern wie ,,Altes Land" und ,,Mittagsstunde." Aber mit ein wenig Glück, gibt es wohl in diesem oder im nächsten Jahr Nachschub. Bis dahin muss ich mich gedulden und gerne auch nochmal ,,Mittagsstunde" re-readen, denn eins muss ich gleich zu Beginn sagen: Das Buch hat von mir leider nicht die volle Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient hätte. Der Grund dafür: ich habe das Buch parallel zu einem anderen tollen (Leserunden-) Buch gelesen, weshalb ich für diese Geschichte 2 Wochen gebraucht habe – anstelle von 3-4 Tagen, in denen ich das Buch wohl ,,gefressen" hätte, wenn ich nichts anders nebenbei gelesen hätte.

Dörte Hansen erzählt in ,,Mittagsstunde" die Geschichte der Familie Feddersen. Sönke und Ella sind seit knapp 70 Jahren verheiratet und jeder in der Familie, im Dorf und auch wir Leser hoffen, dass beide ihre Gnadenhochzeit noch gemeinsam feiern können. Gefeiert werden soll natürlich im eigenen Gasthof, dem Mittelpunkt des Dorfes Brinkebüll, den Sönke von seinen Eltern übernommen hat. Betreut werden die beiden von ihrem Enkel Ingwer, Sohn ihrer Tochter Marret ,,Ünnergang". Ingwer ist Hochschulprofessor und eigentlich dem Dort seit vielen Jahren entwachsen, legt jetzt ein Sabbatical ein und kehrt nach Brinkebüll zurück, denn ,,er hing an diesem rohen, abgewetzten Land, wie man an einem abgeliebten Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, das am Bauch kein Fell mehr hatte.". Doch er erkennt sein Heimatdorf kaum wieder: ,,keine Schule, kein Bäcker und kein Kaufmann. Keine Störche auf dem Dach der Kirche, auf den Feldern keine Kühe, nur noch Mais und Wind." Und somit erzählt Dörte Hansen auch die Geschichte des Dorfes und seiner Bewohner, und während ich diese Rezi schreibe, werde ich schrecklich melancholisch und die Augen werden feucht. Denn die Geschichte ging unendlich tief in mich hinein.

Ich habe sowohl das Dorf und seine Bewohner, allen voran aber Ingwer und seine Großeltern unglaublich lieb gewonnen. Vor allem der alte Sönke, der mit 93 Jahren zwar körperlich nicht mehr fit ist, aber immer noch die Stellung in seinem Gasthof hält, wird für immer einen Platz in meinem Leserherzen haben. Die Beziehung zwischen ihm, dem Kriegsheimkehrer und Ella, die nicht mehr mit seiner Heimkehr gerechnet hat, hat Dörte Hansen so unglaublich feinfühlig und mit so viel Wärme erzählt. Es ist soviel passiert in ihrem Leben und im Dorf, dass ich mich manchmal gefragt habe, wie Dörte Hansen das auf gerade mal 320 Seiten packen konnte. Natürlich hätte ich mir mehr Seiten gewünscht, einfach, weil das Buch sooo gut war, aber irgendwie war es in seiner Kürze auch perfekt geschrieben. Sehr, sehr atmosphärisch mit so einem feinen Gespür für Stimmungen, Gefühle, Menschen. ,,Marret Ünnergang, verdreht, nicht verrückt, nie ganz normal. Ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt."

Ich sagte schon, ich werde schrecklich melancholisch, wenn ich an das Buch denke und auch wenn ich an der ein oder anderen Stelle lachen oder schmunzeln konnte, es ist kein fröhliches Buch. Es geht tief in mich hinein, der Stachel, den es in mein Herz gebohrt hat, hat Widerhaken und lässt sich nicht herausziehen. Aber der Stachel soll auch gar nicht gezogen werden. Im Gegenteil, ich werde mit einem Re-Read eher noch tiefer hineintreiben, aber auch nur allzu gerne bei jedem ,,Hä?!" von Sönke vor mich hingrinsen.

Bewertung:
[note2+]
Rock the Night!

Inge78

"De Welt geiht ünner"

Nicht die ganze Welt geht unter, aber das kleine Dorf Brinkebüll. Flurbereinigung, Hofaufgaben, Abwanderungen, das Dorf stirbt aus. Nur einer kommt zurück, Ingwer Feddersen, um sich um seine Großeltern zu kümmern, die ihn aufgezogen haben und denen er jetzt etwas zurück geben will.

"Mittagsstunde" ist mein zweiter Roman von Dörte Hansen. Und wieder liebe ich die Geschichte und vor Allem die Charaktere sehr. Ich bin so nah dran an den Personen, die Geschichte ist tragisch und doch so liebenswert. Ich bin selber sehr ländlich auf einem Hof großgeworden und kenne und liebe einfach diesen Schlag Mensch. Dörte Hansen hat ihnen ein großartiges Denkmal gesetzt mit diesem Buch. Ganz ruhig erzählt, mit viel Lokalkolorit , mit viel Landschaft und dem "bisschen Mensch" erzählt uns die Autorin eine Geschichte über Familie, über Liebe und Verlust. Besonders Sönke, Kriegsheimkehrer, Gastwirt, Ehemann, Vater, Großvater ist mir ans Herz gewachsen. Seine Geschichte wird in mehreren Zeitsprüngen erzählt denen ich allen gerne gefolgt bin. Das "Altwerden" spielt hier eine große Rolle und wird sehr ehrlich aber auch anrührend erzählt. Eine Geschichte, bei der ich das ein oder andere Tränchen aus den Augenwinkeln wischen musste. Danke für dieses großartige Buch, danke für dieses klingende Brinkebüll, "raschelig in den Eichenkronen, flüsterlich in den Pappeln.". "Weetst du noch?", ich werde es nicht vergessen.

Ich möchte auch noch ganz besonders die Sprecherin des Hörbuchs, Hannelore Hoger, erwähnen und loben. Eine tolle Stimme, sehr einfühlsam gelesen. Sie hat das Buch, die hat den "norddeutschen Schnack" lebendig gemacht, sie hat Schlager angesungen, die ich dann meist sogar spontan mitsingen konnte, mit denen auch ich aufgewachsen bin. Ein echtes Erlebnis, das Hörbuch, absolut zu empfehlen.

[note1]
Words are, in my not-so-humble opinion, our most inexhaustible source of magic. Capable of both inflicting injury, and remedying it - Albus Dumbledore

Im finst´ren Förenwald, da wohnt ein greiser Meister. Er ficht gar furchtlos kalt sogar noch feiste Geister.
(aus "ES" von Stephen King)

Fiktion ist wie ein Spinnennetz, das, auch wenn nur vielleicht ganz leicht, an allen vier Ecke des Lebens befestigt ist.
- Virginia Woolf

Kathrin

Hach, ich freu mich, dass Dir das Buch auch so gut gefallen hat, Inge  :knuddel:
Rock the Night!

Esmeralda

Ich freue mich auch soo sehr, liebe Inge, dass Dich das Buch auch so begeistern konnte.  :knuddel:
Life is too short to read bad books.