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Anspruchsvolles & Klassiker => Rezensionen => Thema gestartet von: Kathrin in 06. März 2020, 15:13:49

Titel: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: Kathrin in 06. März 2020, 15:13:49
Inhalt:
ZitatAlle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem ehemals roten Wedding verbunden, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin. Mit dem heruntergekommenen Haus dort in der Utrechter Straße. Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat. Regina Scheer, die großartige Erzählerin deutscher Geschichte, hat die Leben ihrer Protagonisten zu einem literarischen Epos verwoben voller Wahrhaftigkeit und menschlicher Wärme.

Meine Meinung
,,Gott wohnt im Wedding" ist der zweite Roman der Autorin Regina Scheer, die bereits mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte veröffentlicht hat. Für mich war dieses Buch ein absoluter Spontankauf und ich weiß, ohne den booktube-Kanal ,,booksfriends4ever" wäre ich auf dieses Buch nie aufmerksam geworden. Doch als Meike das Buch als einen ihrer Neuzugänge im Frühsommer 2019 vorgestellt hat, hat mich die Geschichte sofort in ihren Bann gezogen, dass ich mir  das Buch wenige Tage später ebenfalls bestellt habe.

Den Einstieg in das Buch fiel mir extrem leicht, denn hier erzählt das 1890 in Berlin-Wedding erbaute Haus selbst und es weiß, dass sein Ende naht und es abgerissen werden soll. Die Idee ein Haus seine eigene Geschichte in der Ich-Form und die seiner ehemaligen und aktuellen Bewohner erzählen zu lassen, mag nicht jedermanns Sache sein, doch ich habe diese Idee geliebt. Seitdem sehe und höre ich jeden Setzungsriss, jedes Knarzen oder komische Geräusch in meinem eigenen knapp 100-Jahre alten Haus mit anderen Augen bzw. Ohren. Ich bin sicher, mein Haus könnte auch so einiges erzählen und ich befürchte, es ist mit meinen tierischen Mitbewohnern ggf. nicht immer einer Meinung.

Neben dem Haus, das im Mittelpunkt der Geschichte steht, lernen wir hier noch Leo Lehmann, Gertrud Romberg und Laila Fiedler kennen, die ebenfalls ihr ganz eigene Verbindung zu dem Haus haben. Gertrud beispielsweise hat schon immer in dem Haus gewohnt, ist in zwischen aber sehr alt und krank und, wartet wohl ähnlich wie das Haus selbst, auf den Tod. Leo kennt sie aus ihrer Jugend, hat ihn aber Jahrzehnte nicht gesehen, da er nach Israel ging und erst jetzt nach 70 Jahren in Begleitung seiner Enkelin Nira in seine alte Heimat zurückkehrt um Erbangelegenheiten seiner verstorbenen Frau zu regeln. Laila ist ein wenig der gute Geist des Hauses, allerdings nicht wörtlich zu nehmen. Denn sie kümmert sich sowohl um Gertrud als auch um Flüchtlingsfamilien, die vorübergehend in dem Haus unterkommen und ahnt dabei selbst nicht, dass ihre eigene Familie ebenfalls einige Zeit in diesem Haus gewohnt hat.

Ich bin echt total am schwanken, wie ich das Buch letztendlich bewerten soll. Es ist so hoch interessant und die Geschichte selbst nimmt mich mit, auch die Art und Weise, wie Regina Scheer die unterschiedlichen Geschichten und Erzählstränge mit einander verwebt. Trotzdem bin ich der Meinung – auch wenn man in dem Buch wirklich viel lernen kann, gerade über die Geschichte der Sinti und Roma -  dass man diese Geschichte auch noch besser, mitreißender erzählen kann. Es war mir oft zu distanziert, ich war nicht wirklich nah dran an den Figuren. Deren Geschichten, ja, die sind an sich spannend, aber nicht immer so erzählt, dass es mich voll packen konnte. Mich stört z.B. die Gegenwartsform, in der die aktuellen Geschehnisse erzählt werden. Natürlich springen wir mit dem Haus oder seine aktuellen oder ehemaligen Bewohnern oft genug in die Vergangenheit zurück und somit auch in die Vergangenheit als Erzählform, aber mir sträuben sich sämtliche Haare, wenn ich Sätze lesen muss wie ,,Hinter dem Mann tritt ein jüngerer durch die Tür." Ich mag das einfach nicht.

Auch bezüglich der Aufmachung des Buches hätte ich mir mehr Extras gewünscht. Ich fand es großartig, dass es hinten im Buch ein Personenregister mit relativ vielen Informationen zu den einzelnen Figuren gibt. Aber einen Überblick hat mir das nicht wirklich gegeben, auch wenn es mir beim Stammbaum-Malen geholfen hat, aber die Stammbäume der verschiedenen Figuren habe ich gebraucht. Genauso gerne hätte ich auch einen Glossar mit jüdischen und/ oder Roma/ Sinti-Ausdrücken oder auch einen Stadtplan bzw. Ausschnitt über den Wedding. Ich blättere beim Lesen immer wieder gerne in solchen Extras und hier habe ich es schmerzlich vermisst.

Tja und zu guter Letzt haben meine an sich so schlechten Augen so manchen Fehler entdeckt. Falsche Personennamen, die an gewissen Stellen keinen Sinn gemacht haben, einen Wort zu viel oder zu wenig oder auch Ungereimtheiten was den Altersunterschied zwischen zwei Figuren anging (2 oder 4 Jahre?) Ich wünschte, ich würde solche Dinge nicht entdecken, aber hier leider wieder mal so. Das hätte im Lektorat auffallen müssen.

Ich selbst habe leider nicht allzu viele Notizen zu dem Buch gemacht, kann Euch aber einige der 4-Sterne Rezensionen empfehlen, die man u.a. bei Amazon finden kann. Da sprechen mir viele aus dem Herzen, da ich aber nicht abkupfern will, verweise ich an dieser Stelle nur.

Bewertung:
[note2-]
Titel: Re: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: Inge78 in 27. Mai 2022, 07:29:51
" So hängt alles zusammen, und alles hat Folgen, die man nicht immer gleich erkennt."

In diesem Roman schlägt Autorin Regina Scheer einen großen Bogen von nahezu 100 Jahren. Ein Haus in der Utrechter Straße im Berliner Wedding ist Schauplatz von unzähligen Leben und oft tragischen Schicksalen.

Leo wurde als Jude in Deutschland verfolgt, floh nach Israel, verlor aber u.a. seinen besten Freund in Berlin. Nun ist er zurückkeht, zusammen mit seiner Enkelin, auf der Suche nach Antworten. Und welche Antworten hat die alte Gertrud, die immer noch in diesem Haus wohnt? Doch ihre Geschichte ist nur eine der unzähligen Geschichte, die das Buch erzählt. Durch ihre Nachbarschaft und durch Freundschaft verbunden, überlagern sich viele Schicksale in diesem Haus in Berlin. Ein Haus, das uns in einzelnen Kapiteln selbst seine Geschichte erzählt. Vom Aufstieg und Niedergang und Wiederaufbau einer Wohngegend und einer ganzen Nation. Diese Kapitel haben mir besonders gut gefallen, geben sie doch eine ganz andere Sicht auf die Geschehnisse, das Haus ist der allwissende Erzähler par excellence.
Ans Herz gewachsen ist mir auch Laila, eine Sinti, die das Herz des Hauses bildet, die hilft wo sie kann, die übersetzt, vermittelt, Amtsgeschäfte erledigt und doch selber in ihrer Familie soviel Verlust und Trauer erlebt hat.
Die Wohngemeinschaft des Hauses ist "multi-kulti" , umso schlimmer, dass es abgerissen werden soll und schicken Eigentumswohnungen Platz zu machen. Und die Investoren schrecken nicht davor zurück, die Mieter auch durch Schikanen aus ihren Wohnungen zu entfernen. Wer wird bleiben, wer muss gehen, wer kann helfen?
Das Buch ist aufgrund der vielen Charaktere und Geschichten nicht immer ganz einfach aber durch seine Vielschichtigkeit unglaublich fesselnd und interessant. Der Schreibstil der Autorin hat mir gut gefallen, war zurückhaltend, manchmal fast sachlich aber dadurch wurden die Tragödien fast noch schlimmer. Nicht nur der 2.Weltkrieg ist Thema das Buches, auch aktuelle Kriege, Flüchtlingskrise, Fremdenhass, Wohnungsnot, Einwanderung und verschiedene Kulturen, speziell hier Roma und Sinti, sind Themen des Buches. Eine Vielzahl von Geschichte, die fast den Rahmen des Buches zu sprengen drohnt und die manchmal nur kurz angerissen werden können. Es sind immer nur Schlaglichter, kurze Einblicke, die uns gestattet werden, hinten denen aber so viel Leben und so viel Leid steckt. EIn eindringliches Buch, das mich emotional getroffen hat und das ich jedem Leser ans Herz legen kann, wenn man sich auf diese komplexe Story einlassen kann. Ein großartiges Werk

[note2+]

Titel: Re: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: Esmeralda in 27. Mai 2022, 07:51:59
Klingt (leider) total gut - muss auf meine WuLi.  :dong:
Titel: Re: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: Kathrin in 27. Mai 2022, 08:25:26
Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich das Buch heute nicht doch auch besser beurteilen würde, als zu dem Zeitpunkt, als ich es gelesen habe. Weil ich eigentlich noch ziemlich viel weiß. Ich glaube ich würde das heute durch eine andere Brille betrachten.
Titel: Aw: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: Esmeralda in 12. September 2023, 08:39:02
Mein Leseeindruck:
"Gott wohnt im Wedding" ist ein wunderbares und besonderes Buch.
Das liegt vor allem an der Erzählweise, in welcher u.a. das Haus selber die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner seit seiner Erbauung im 19. Jahrhundert erzählt. Des Weiteren die Geschichten der Hausbewohner ganzer Epochen; erzählt wird die Geschichte Deutschlands, Berlins, des Weddings, der Utrechter Straße, des Hauses und wir begleiten verschiedene Sinti und Roma auf ihrem Lebensweg.

Gerade zu Anfang fand ich es nicht immer leicht, der Geschichte zu folgen, denn die Autorin wechselt ziemlich oft zwischen Zeitebenen und Handlungssträngen; doch die Idee mit dem Haus als Erzähler der Geschichte fand ich grandios umgesetzt.
Und je weiter ich gelesen habe, desto lebensnaher wurden die Figuren gezeichnet, die Handlungsebenen waren so gelungen miteinander verwoben und der Roman inhaltlich und stilistisch so beeindruckend, dass ich niemals das Gefühl hatte mich zu verlieren.

Garantiert nicht mein letzter Roman von Regina Scheer und eine große Leseempfehlung.

[note 2+]
Titel: Aw: Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding
Beitrag von: sisquinanamook in 13. Januar 2024, 16:28:51
Mein Leseeindruck zum Buch:

Ein Haus im Wedding erzählt seine Geschichte. Und das wortwörtlich, dann in ihrem Buch lässt die Autorin nicht nur die Bewohner sondern auch das Haus selbst sprechen.
Dieses Element fand ich sehr gelungen, da das Haus selbst den geschichtlichen Kontext zu den Geschichten der Hausbewohner erzählt, was es für mich selbst persönlich machte.

Die Geschichten der Bewohner, vor allem Juden und Roma /Sinti, gehen alle unter die Haut.
Regina Scheer lässt ihre Figuren einen Aspekt des 2. Weltkrieges erzählen, den ich zwar kannte, aber mit dem ich mich noch nie so im Detail auseinandergesetzt habe. Dabei spannt sie geschickt den Bogen bis in die Gegenwart.

So gut und interessant ich dieses Buch fand, ich fand es aber auch sehr anstrengend.
Ich denke, das Buch hätte vielleicht noch die ein oder andere Seite mehr gebrauchen können, denn die Fakten und Namen reihen sich dicht an dicht.
Die Autorin lässt die Figuren zwar selbst erzählen und ich kam ihnen auch nah, aber teilweise habe ich mich wie in einem Geschichtsvortrag gefühlt bzw. Als würde ich einen geschichtlichen Artikel lesen.

Es ist bestimmt kein Buch für zwischendurch, aber ich habe wieder einen neuen Teil der Geschichte entdeckt, der mir in diesem Ausmaß nicht bewusst war und ich habe noch oft über das ein oder andere Thema des Buches nachgedacht und werde auch noch das ein oder andere nach recherchieren.

Für Geschichtsinteressierte ist das Buch absolut zu empfehlen - für Lesende, die Geschichte lieber in ,,richtiger" Romanform erleben wird das Buch m.M.n  leider etwas zu trocken sein.

Von mir gibt es 4/5 Sternen