Wolf Gregis - Sandseele

Begonnen von Dante, 23. Oktober 2021, 13:54:59

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Dante

Wolf Gregis: Sandseele
Herausgeber: ‎BoD – Books on Demand; 1. Edition (4. Oktober 2021)
ISBN-13: ‎978-3754316023

Über den Autor:
Wolf Gregis diente als Offizier im Auslandseinsatz in Afghanistan. Er studierte Germanistik und Geschichte und erhielt 2020 das Literaturstipendium der Hanse- und Universitätsstadt Rostock für die Arbeit an seinem Roman ,,Sandseele".

Klappentext:
Afghanistan Ende 2008. Die internationale Schutztruppe ISAF droht zu scheitern. Die Taliban erheben sich erneut und drängen auch die Bundeswehrsoldaten in ihre Feldlager zurück. Eine gemeinsame deutsch-afghanische Operation soll das Blatt wenden. Ziel ist die gefährlichste Provinz im Norden: Kunduz.

Zehn Jahre lang hat der ehemalige Offizier Martin Küfer seine Erinnerung an diese Operation verdrängt. Als er nach einem Anschlag in Mazar-e-Sharif unerwartet seinen afghanischen Freund Abdul in der Tagesschau erkennt, holt ihn die Vergangenheit ein.


Meine Meinung:

,,Sacken lassen ..." Das war mein erster Eindruck, nachdem ich den Debutroman von Wolf Gregis gelesen hatte. ,,Und dann eine Rezension verfassen, die dem beeindruckenden Werk gerecht wird!" Einzig: Kann ich als zivile Leserin einen Roman über Afghanistan überhaupt angemessen rezensieren? Am Ende entschied ich mich für eine Leseempfehlung.

Weil ich mich anfangs schwertat, die in meinen Augen richtigen und passenden Worte zu finden, recherchierte ich, wie die Meinung des Autoren zu seinem eigenen Werk lautet. ,,Aufklären, Austauschen, Aufarbeiten", heißt es auf seinem Instagram-Account, ,,darüber, warum der Einsatz (...) gescheitert sein kann und wie sich das für den Einzelnen [Betroffenen] anfühlt." Und eine Lesewarnung an ,,all die, die ein deutsches Black-Hawk-Down erwarten", denn das wäre es nicht.

Ich hatte – man möge es mir bitte nachsehen, aber spätestens jetzt wäre ich wohl als Zivilist enttarnt – keine Ahnung, was ein Black-Hawk-Down sein soll, hätte also ohnehin keine falschen Erwartungen gehabt, als ich mit dem Lesen begann. Fragt man nach den Gründen, WARUM ich zu diesem Buch gegriffen habe, das vollkommen außerhalb meines Buchbeuteschemas liegt: Neugierde; denn ,,Sandseele" klang interessant. Aber: ein Mann. ein Karton. eine Handvoll Gegenstände – was hat das mit Seelen, was mit Afghanistan zu tun?

Am Ende weiß jeder Gegenstand eine Geschichte zu erzählen, ist er ein feingesponnener Faden, aus dem letztendlich eine Stoff gewoben wird – der Stoff einer längst verdrängten Phase. Mit jedem Gegenstand, den die Romanfigur Martin Küfer nach Jahren der Verdrängung hervorholt, taucht der ehemalige Soldat weiter ein in die Vergangenheit.

Der Roman nimmt für mich besonders Fahrt auf in Passagen, in denen etwas Neues dem Dunkel des Kartons entnommen wird; mit kurzem, fast staccatoartigem Schreibstil wird dann die Antwort des Körpers auf jede (Wieder-)Entdeckung beschrieben. Fast meint man, dort zu sein bei Martin Küfer und dem Karton, hat viel zu hohen Puls, Schwindelgefühle, Atemnot, Übelkeit, Wut, Verzweiflung – die volle Palette an Gefühlen, die man haben kann, wenn man sich dem lang verborgenen ,,Krieg im Kopf" stellt. Denn diese Art von Ausnahmezustand kann auch in Zivilsten toben; wer ihn kennt, hat vielleicht auch schon gehört von PTBS – dem posttraumatischen Belastungssyndrom. Und Kritiker, die Schwierigkeiten haben sich vorzustellen, was ,,so ein paar Wochen denn groß" mit einem machen können, kann man nur beglückwünschen – sie blieben bis dato offenbar von jedweder Krise verschont wie z.B. Autounfall, schwere Krankheit, toxische Beziehung und was sonst noch zu PTBS führen kann. Wie sagt der Autor auf seinem Instagram-Account: ,,Es reicht ein Tag."

Wem also empfehle ich die Lektüre dieses Buches?

Mit Sicherheit ist der Roman wichtig für Veteranen, denn die Zielgruppe, die Wolf Gregis sich primär vorgestellt haben dürfte, werden wohl seine Kameraden sein. Menschen, die es wieder gilt, in der Mitte der Gesellschaft sichtbar zu machen. Bewusst wurde mir das unter anderem in der Passage mit den Postkarten von U.S.-Schüler:innen, die sich bei ,,ihren" Soldaten bedankten für den Dienst, den diese tun. ,,Thanks for saving our country". Martin Küfer fragt sich zu Recht: ,,Wer schreibt uns?"

Eine Leseempfehlung spreche ich auch aus an die, die sich für das Thema ,,Kultur Afghanistans" interessieren, denn der Roman geht mit weniger Erzähltempo und Liebe zum Detail ein auf verschiedene Aspekte der Natur, der Menschen, des Miteinanders, das – mich zumindest – neugierig machte. Man kann diesem Land nur möglichst bald friedvolle Zeiten wünschen, damit man es wieder besuchen und alles mit eigenen Augen sehen kann.

Lesenswert ist es am Ende meines Erachtens auch für alle, die EINEN von vielen Ansätzen bei der Bewältigung von PTBS suchen (ich wiederhole: EINEN von VIELEN Wegen!). Was MIR das Buch am Ende gegeben hat, ist die Bestätigung: Herrscht ,,Krieg im Kopf" oder gibt es Dinge in der Vergangenheit, denen man sich stellen muss, sollte man genau das tun: die Wunde noch einmal kontrolliert aufreißen, damit sie sauberer verheilen kann. Denn irgendwann wird zwangsläufig ein Trigger den Aufarbeitungsprozess anstoßen, besser man holt sich Hilfe und stellt sich dem geordnet, bevor es einen aus dem Nichts überfällt – und sei es, weil man vor der Tagesschau sitzt und jemandem im Beitrag wiedererkennt.

Einzige Kritikpunkte: Etwas nervig war für mich die Figur Greta, mit der ich bis zum Schluss nicht warm wurde (von einer Frau hätte ich mehr Einfühlungsvermögen erwartet). Auch hätte ich mir am Ende ein wenig mehr Zeit gewünscht bei der Findung des Seelenfriedens; der Werdegang des Kartons war mir dann doch ein wenig zu schnell.

Kurzum: Ein spannender Roman wider die Gleichgültigkeit, der anregt zu kontroverser Diskussion, mit Einblicken in die afghanische Kultur, in Kampfstrategien und -taktiken und in die Tatsache, dass das Leben bunt und nicht schwarz-weiß ist.

[note2+]

Instagram: @susanne_pilastro_autor

Esmeralda

Danke für Deinen Leseeindruck, Dante.
Da ich mich tatsächlich mal mehr mit der "Kultur Afghanistans" auseinander setzen möchte, ist diese Buch mal direkt auf meine WuLi gehüpft ... direkt zusammen mit "Drachenläufer" von Khaled Hosseini, das mir auch schon häufiger wärmstens empfohlen wurde.

Ich 'warte' jetzt eigentlich nur noch darauf, dass ich mich psychisch gefestigt genug fühle, um mich mit solchen Romanen zu befassen; denn ich denke, dass solche Geschichten einen ganz schön 'aus der Bahn werfen' können (hast Du ja auch selber so ähnlich beschrieben) - aber dennoch bin ich sehr neugierig darauf und ich denke diese Romane sind auch sehr wichtig.
Life is too short to read bad books. 

Inge78

Puh, schwierig. Ich glaube dass das Buch mir zu real wäre
Words are, in my not-so-humble opinion, our most inexhaustible source of magic. Capable of both inflicting injury, and remedying it - Albus Dumbledore

Im finst´ren Förenwald, da wohnt ein greiser Meister. Er ficht gar furchtlos kalt sogar noch feiste Geister.
(aus "ES" von Stephen King)

Fiktion ist wie ein Spinnennetz, das, auch wenn nur vielleicht ganz leicht, an allen vier Ecke des Lebens befestigt ist.
- Virginia Woolf

Dante

Zitat von: Esmeralda in 25. Oktober 2021, 08:35:03
Danke für Deinen Leseeindruck, Dante.
... bin ich sehr neugierig darauf und ich denke diese Romane sind auch sehr wichtig.
Ich halte mich hier mal zurück, bis du es gelesen hast.
Instagram: @susanne_pilastro_autor