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Unterhaltung => Rezensionen => Thema gestartet von: Sagota in 02. September 2021, 14:32:16

Titel: Ute Mank - Wildtriebe
Beitrag von: Sagota in 02. September 2021, 14:32:16
"Wildtriebe" von Ute Mank erschien (HC, geb.,2021) im dtv-Verlag und entführt den Leser auf den "Bethches-Hof" in Hessen, den die im Roman alt gewordene Großbäuerin Lisbeth Ende des 2. Weltkrieges erbte, da ihre Brüder gefallen waren. In die Rolle der Bauersfrau hineingewachsen, arbeitet sie an der Seite ihres Mannes Karl zeitlebens auf dem Milchbauernhof und übernimmt alle traditionellen Rollen klaglos, die auf einem Hof für sie anfallen.

Als Sohn Konrad Marlies heiratet, kommt damit eine neue Frau auf den Hof, die von nun an "Bethches-Marlies" ist. Beide Frauen spüren, dass es nicht leicht sein wird, miteinander auszukommen: Während Lisbeth so aufgewachsen ist, sich alles von den älteren Frauen (und der Mutter) abzugucken, macht Marlies trotz aller Bemühungen vieles anders, was zuweilen für Zündstoff sorgt. Marlies möchte mehr vom Leben als eine Bäuerin sein; diese Rolle liegt ihr nicht wirklich: Während Lisbeth ganz selbstverständlich in diese Rolle und ihre Aufgaben hineinwuchs, hat Marlies das Bedürfnis, einen Ausgleich zu haben: So macht sie den Jagdschein und später lernt sie, Traktor zu fahren. Sie hilft mit, wo sie kann, unterstützt ihren Mann Konrad, aber möchte auch ins Modehaus zurückkehren, wo sie vor ihrer Heirat gearbeitet hat.

Nach einigen Jahren (auch wann sich Nachwuchs einstellt, mochte Marlies nicht dem Zufall überlassen, sondern dann, wann sie es für richtig hielt) kommt Tochter Joanna auf die Welt: Einige Zeit ist das Verhältnis von Marlies und Lisbeth ein wenig entspannter, doch Freundinnen werden sie nie. Joanna wächst heran und macht nach dem Abitur erst einmal ein soziales Jahr; sie fliegt nach Afrika und sollte später innerlich und äußerlich verändert zurückkommen: Sie wollte mit ihren Freunden die Realschule besuchen, während ihre Mutter sie zum Besuch des Gymnasiums drängte, da sie "ja immer nur ihr Bestes" wollte...

In diesem Roman, der die HauptprotagonistInnen sehr sensibel ausleuchtet und für so manches Kopfschütteln beim Lesen sorgt, geht es um Traditionen, die von der älteren Lisbeth aufrecht erhalten werden wollen; um Selbstbestimmtheit und sich anpassen; um Erwartungshaltungen und tradierte Rollenvorstellungen, die sich nicht nur auf dem Land - aber eben auch dort - in den letzten 70 Jahren für Frauen sehr gewandelt haben:

Während Lisbeth niemals eine andere Wahl hatte, als Bäuerin zu werden, den Hof weiterzuführen "so wie es immer war" und nach Jahren der Kinderlosigkeit doch noch hofft, Mutter zu werden, bestimmt Marlies diesen Zeitpunkt selbst: Setzt sich über die unausgesprochene Erwartungshaltung der Großeltern hinweg, um ihnen dann doch noch Joanna als Enkelkind zu präsentieren: Diese geht jedoch ihren ganz eigenen Weg, auf den Marlies schon längst keinen Einfluss mehr hat. Hier tat mir die Mutter etwas leid, da sich zwischen Joanna und ihrer Großmutter Lisbeth eine engere Bindung offenbarte als dies zwischen Marlies und Joanna der Fall war: Ihre Beziehung empfand ich als eher unterkühlt mit wenig Nähe und Offenheit. Gegen Ende des Romans stimmen diese "emotionalen Proportionen" jedoch wieder und vielleicht hat Joanna ihrer Mutter unbewusst geholfen, "den Weg frei zu machen, um sich selbst zu entfalten"?

Die Dialoge fand ich sehr interessant wie auch den geradlinigen, schnörkellosen Schreibstil von Ute Mank, der mir gut gefallen hat: Ich bin sicher, dass sich hier viele Frauen in Lisbeth, in Marlies oder auch in Joanna wiederfinden, da auch ein Stück Zeitgeschichte transparent gemacht wird: Was für unsere Großmütter undenkbar schien, ist heute absolut möglich; z.B. ein Kind auch ohne einen Vater aufzuziehen.

Etwas bedauert habe ich, dass die männlichen Protagonisten Karl, Konrad und auch der Knecht Alfred, der zeitlebens auf dem Hof gearbeitet hat, im Dunkeln blieben: Hier ging es mehr um die Sicht der Frauen, auch die Beziehungen betreffend: So wird z.B. klar, wie sehr sich Marlies und Konrad bereits auseinanderlebten, als sie zusammen den leeren Kuhstall ausfegen; es ist eher ein sich-aus-dem-Weg-gehen als ein "aufeinander zugehen". Hier litt ich eher mit Konrad, dessen Lebensinhalt der Bethches-Hof eben auch war und der fortan in der Fabrik arbeitete als die - dennoch verständliche - Reaktion von Marlies teilen zu können: Das Fehlen der Kühe bedeutete für sie auch eine Erleichterung, eine positive Veränderung...

Das Leben auf einem Hof (damals ohnehin und heute sicher ebenso) unterliegt ganz eigenen Gesetzen, die naturbedingt von den Tieren und den Arbeiten "diktiert" werden. Nicht jeder ist für solch' ein Leben geschaffen, dem ich (als Enkelin eines Landwirts) sehr großen Respekt entgegenbringe und dessen "Aura" ich durch eine Freundin, deren Eltern einen 400 Jahre alten Hof in der Pfalz hatten, ich selbst kennenlernen durfte. Die Autorin hat auch Sozialkritik anklingen lassen: Viele Milchhöfe wurden durch die EU-Gesetze sanktioniert, wenn sie zu viel Milch produzierten und viele haben aufgrund der schlechten Bezahlung der Landwirte ihren Betrieb aufgeben müssen, da es sich einfach nicht mehr rentierte. Sehr traurig, wie ich finde.

Ich fand besonders Lisbeth sehr authentisch und mochte sie; ebenso wie Marlies, die meiner Generation angehört und deren analytische Gedanken ich oft sehr klug und richtig fand

"Aussuchen können musste man es sich, was man werden wollte. Frei darüber entscheiden"
(S. 110)

Ein schönes Abschlussbild "krönt" diesen sehr lesenswerten Roman um drei Frauen, die ihre typischen Generationskonflikte hier auf dem Bethches-Hof austragen: Großmutter und Enkelin sitzen einträchtig auf der Bank und Lisbeth sieht den Bethches-Hof, auf dem es nun keine Kühe mehr gibt, mit ganz anderen Augen, "so, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen".
Gerne empfehle ich "Wildtriebe" weiter; viele Frauen aller Generationen werden sich in ihm teilweise wiederfinden - und sich angesprochen fühlen. (Und ausser Generationskonflikten trägt der Roman eine Menge Potential in sich, aufzuzeigen, wo die verschiedenen Generationen auch durchaus voneinander lernen können - und es auch tun!).