Marie-Sabine Roger: Der Poet der kleinen Dinge

Begonnen von Kathrin, 09. August 2021, 16:22:56

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Kathrin

Der Poet der kleinen Dinge von Marie-Sabine Roger

Herausgeber ‏ : ‎ HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 240 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3455400957

Meine Meinung:
Dass ,,Der Poet der kleinen Dinge" von Marie-Sabine Roger für mich ein Highlight werden könnte, hätte ich nie gedacht, als ich es gekauft habe. Das Buch war eines der Blind-Date-Bücher, die mir die Buchhändlerin meines Vertrauens Monat für Monat aussucht und die ich dann lese – auf ihre Empfehlung hin. Sie hat auch schon mal daneben gelegen, aber hier bin ich ihr unendlich dankbar, dass ich so eine neue Autorin für mich gefunden habe, denn ich bin mir so, so sicher, dass ich auch alle anderen Bücher von Marie Sabine Roger lesen will!

Die Autorin erzählt die Geschichte von Gérard, genannt Roswell. Er ist geistig und körperlich behindert und wohnt seit dem Tod der Mutter bei seinem Bruder Bertrand und dessen Frau Marlène und fristet dort ein ziemlich trauriges und ungeliebtes Dasein, zumal ihn Marlène am liebsten aussetzen würden. Alles ändert sich, als Alex, eine junge Nomadin bei Bertrand und Marlène vorübergehend ein Zimmer mietet und eine Verbindung zu Roswell knüpfen kann. Bei einem Ausflug treffen Alex und Roswell auf zwei andere Außenseiter: Cedric und Olivier, genannt Zackenbarsch, die seit dem Unfalltod eines Freundes vor etlichen Jahren den Boden unter den Füßen verloren haben und nichts mit sich und ihrem Leben anzufangen wissen.

Das mag zunächst nach einer sehr sonderbaren Mischung klingen und ich kann mir gut vorstellen, dass mancher Leser die Figuren auch als stereotyp empfindet: zwei ,,Loser", arbeitslos, die ihren Eltern auf der Tasche liegen und den ganzen Tag am Kanal rumhängen und Bier trinken. Alex, die, wenn man nicht genau hinschaut auch für einen jungen Mann gehalten werden kann, durch die Welt tingelt und sich nur dann für längere Zeit an einem Ort aufhält, wenn sie für sich und ihre Art zu leben mal wieder Geld verdienen muss. Und dann Marlène, die extrem überspitzt dargestellt ist und der ich mehrfach die Augen hätte auskratzen können aufgrund ihrer Einstellung - das konnte ich manchmal echt nur schwer aushalten. Aufgrund dieser eher stereotypen Figuren und auch aufgrund des eher flapsigen Stils hatte ich zunächst Angst, dass das Buch nichts für mich wäre. Aber die Autorin hat einen unglaublich guten Blick auf ihre Figuren, sie bringt sie so echt rüber und damit hat sie mich eingefangen. Es ging sogar so weit, dass ich ein gewisses Maß an Verständnis für Marlène aufbringen konnte. Ich mochte sie zwar immer noch nicht, aber ein Fitzelchen Verständnis für sie war da. Und das fand ich grandios. Und noch viel grandioser war, dass mich eine Figur vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt, mich so dermaßen positiv überrascht hat. Ich hatte ab dieser besonderen Szene einen Dauer-Schauer, der mir über den Rücken gerieselt ist und ich habe diese Figur so dermaßen gefeiert – auch wenn ich aus Spoiler-Gründen nicht verraten kann, wer da zu meinem persönlichen Helden der Geschichte mutiert ist. Nach dieser einen Szene sind sämtliche Bücher der Autorin direkt auf meine Wunschliste gewandert. Die klingen alles so, so gut!

Es mag sein, dass das Ende ein wenig zu rosa-rot, vielleicht sogar ein wenig unrealistisch ist. Aber es hätte in meinen Augen nicht anders sein dürfen, das wäre den so liebgewonnenen Figuren gegenüber nicht fair gewesen.  Es ist so ein dünnes Büchlein und doch steckt so viel drin. Es regt zum Reflektieren über das eigene Verhalten an, denn auch wenn ich Marlènes Verhalten Roswell gegenüber unter aller Sau finde, so kenne ich doch auch meine eigenen Berührungsängste mit Menschen wie Roswell, einfach weil es sie nicht zu meinem täglichen Leben und Umfeld nicht gibt. Umso wichtiger ist es, dass es Menschen wie Alex gibt, die diese Berührungsängste nicht haben, die Roswell nehmen wie er ist und so normal und unkompliziert mit ihm umgehen, wie mit jedem anderen Menschen auch. Und genauso wichtig ist es, dass Marie-Sabine Roger dieses Buch geschrieben und mir den Spiegel vor die Nase gehalten und trotzdem so wundervolle Lesestunden geschenkt hat.

Bewertung:
[note1]

Rock the Night!