Die Mittagsfrau von Julia Franck

Begonnen von Nebelpriesterin, 04. März 2008, 16:08:27

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Nebelpriesterin

Die Mittagsfrau von Julia Franck

[isbn]3100226003 [/isbn]

Klappentext:
Eine Frau, die ihren kleinen Sohn auf dem Bahnhof stehen lässt und verschwindet, steht im Mittelpunkt. Eine ungeheuerliche Tat, die viele Fragen offen lässt. Wie sich die Handlung entwickelt und wie eine Frau so etwas tun kann, dafür nutzt Julia Franck in ihrem Roman einen Rückblick, der bis auf den kurzen Prolog und Epilog den Roman ausmacht. Sie erzählt, wie diese Frau mit jüdischen Wurzeln in den zwanziger bis vierziger Jahren aufwächst und lebt. Julia Franck entwirft ein großes Bild über diese deutsche Zeit.

Meine Gedanken zu diesem Buch:
Das Leben von Helene, das in diesem Roman geschildert wird, ist von einem Prolog und einem Epilog eingeklammert. So steht die im Klappentext beschriebene Szene gleich zu Beginn im Prolog. Und ich habe mich gefragt, wie es so weit kommen konnte.

In der Familie, in der Helene aufwächst, herrscht keine Liebe. Helene wird als Kind nicht geliebt und kann keine Liebe an ihren Sohn Peter weitergeben. Sie verlässt gemeinsam mit Martha ihrer Schwester die kranke Mutter und später den eigenen Sohn. Die einzelnen Familienmitglieder übernehmen keine Verantwortung füreinander. Wenn Liebe und Verantwortung wegfallen, das macht dann noch die Familie aus? 

Erschüttert hat mich auch die Sprachlosigkeit, die innerhalb der Familien herrscht. Die Verletzung des Vaters nach der Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg, die Geisteskrankheit der Mutter, die offensichtlichen lesbischen Neigungen von Martha - nichts wird thematisiert oder gar reflektiert. Es wird einfach nicht darüber geredet.

Helene, der Hauptcharakter, wird als ein Charakter beschrieben, der hauptsächlich reagiert und einfach tut, was von ihr erwartet wird.

Die einzelnen Kapitel sind nicht zu lang und teilweise durch Absätze so getrennt, dass man auch mitten in einem Kapitel unterbrechen kann. Die Dialoge werden nicht durch Anführungszeichen vom Text abgetrennt.

Ich bin als Leserin nicht in die Gefühlswelt von Helene vorgedrungen. Meine Frage, wie sich eine Frau fühlt, die ihr Kind allein am Bahnhof zurücklässt, wird nicht beantwortet. Was dieses Buch dennoch gut erträglich macht ist die distanzierte Sprache von Julia Franck, die das Geschehen auf Abstand hält. Die Geschichte kommt ohne jegliche Sentimentalität aus, vermeidet sie sogar um jeden Preis.

Mein Fazit:
Das Buch hat mir vor allem bewusst gemacht, dass vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, noch gar nicht so lange existiert. Musste Helene noch die schriftliche Erlaubnis ihres Mannes einholen, um sich überhaupt um eine Arbeitsstelle zu bewerben, käme von uns wohl niemand mehr auf diese Idee. Auch die psychologische Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse gibt es wohl noch nicht so lange. Wie hilfreich sie sein könnte zeigt nicht nur das Verhalten Helenes, sondern auch die Beiträge vieler Zeitzeugen, die in den vielen Kriegs- und Nachkrigsdokumentationen derzeit im Fernsehen zu sehen sind.