Paul Lynch - Grace

Begonnen von Sagota, 29. November 2021, 23:25:41

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Sagota

"Grace" von Paul Lynch erschien (HC, gebunden) 2021 im Verlag Freies Geistesleben/Oktaven und umfasst 550 Seiten.


Irland, 1845 zur Zeit der großén Hungersnot


Grace, die Hauptprotagonistin dieses Romans, wird von Sarah, ihrer Mutter, die ihr 5. Kind erwartet, aber längst nicht mehr weiß, wie sie ihre Kinder sattbekommen soll, in Jungenkleidung als 14jähriges Mädchen weggeschickt, um selbst für ihr Essen und ihren Unterhalt zu sorgen.


Die Ernte wurde vernichtet durch sehr viel Regen und die Zeit der Hungersnot, die viele Iren z.B. nach Amerika auswandern ließ und auch eine Million an Hunger starben zwischen 1845 und 1849. Dies ist der zeitliche Rahmen, in der dieser Roman spielt, der sehr lesenswert, aber auch keine leichte Kost ist:


Colly, der 2 Jahre jüngere Bruder von Grace, wollte sich ihr unbedingt anschließen und später sollte Grace immer wieder Zwiegespräche mit ihrem Bruder halten. Der Leser beginnt also mit Grace seine Reise von Blackmountain an, wo Grace im Norden Irlands aufwuchs, um Richtung Süden zu wandern. Wir begegnen vielen Menschen, die sich hungernd durch die Straßen schleppen und versuchen, woanders ein Auskommen zu finden. Zerlumpte und ausgemergelte Gestalten, die oftmals nichts Gutes im Schilde führen, um zu überleben.


So lernt man an Grace's Seite einen Mr. Soundpost und Clackton sowie andere kennen, die durch eine Verwechslung Grace für Tim halten. Ein Glück für sie, da sie nun für Mr. Soundpost vierzig Kühe zu einem Ort bringen soll und abends Milch und Mehlfladen für ihre Arbeit bekommt. In Gedanken ist ihr Bruder Colly immer dabei; er ist oftmals ihre innere Stimme und die Zwiegespräche sind wie die zweier Kinder oder Halbwüchsiger zu lesen. Der Autor verzichtet komplett auf die direkte Rede, was das Lesen jedoch zuweilen etwas mühsam macht.

Allerdings ist der Schreibstil von Paul Lynch auch poetisch, bildhaft und sehr atmosphärisch: Immer wieder werden irische Landschaften wunderschön beschrieben, so dass man sich einem gewissen Sog, mit Grace auf Wanderschaft zu sein - mitsamt ihren Gefahren, aber auch ihren Beschützern und Weggefährten - nicht entziehen kann.


Grace selbst ist ein kluges, intelligentes Mädchen, das während ihrer Wanderschaft zur Frau reift und ein John Bart, der später ihr Beschützer sein sollte, gerade zur rechten Zeit kommt: Er ist an ihrer Seite, zeigt ihr, wie man mit dem Messer richtig umgeht und auch ein alter Mr. Blister, mit dem sie sich eine Scheune teilt, erteilt ihr wertvolle Ratschläge und Tipps zum Überleben.


Grace fühlt sich wie jemand, der "aus seinem alten Leben rausgerutscht ist - und die, die sie einmal war, verloren hat" (Zitat S. 104). Als Leser ist die Begleitung von Grace auf ihrer Wanderschaft durch das verarmte, hungernde Irland eine Herausforderung; einzig ihr Überlebenswille und auch Hoffnung sowie ihre Klugheit bewahren sie davor, zugrunde zu gehen wie so viele andere Menschen um sie herum. Lynch entwirft eine gespenstisch anmutende Landkarte dieser Hungersnot mit all ihren Schrecken, die man sich (so man Hunger noch nicht erleben musste) heute schwerlich vorstellen kann. Er beschreibt die Folgen der Ernteausfälle und die schrecklichen Auswirkungen auf die Menschen in unbeschönigenden Bildern bis hin zu Andeutungen des Kannibalismus, der vom Überlebenswillen des Menschen gefördert wird.


Geister der Toten stehlen sich immer wieder in Grace's Leben, z.B. Mary Bresher, die beim Überfall auf ihre Kutsche gemeinsam mit ihrem Mann umkam. Das tägliche Sterben wird fast schon ironisch folgendermaßen beschrieben:


"Der Teufel hat hier rumgetrödelt auf den Straßen, die nach Westen führen, und hat in jeder Ortschaft seinen Hut gelüpft". (Zitat S. 379)


Gegen Ende des Romans gibt es ein sehr forderndes, verstörendes Kapitel, in der die Realität im Hungerwahn verschwimmt, es endet mit zwei schwarzen Seiten - vor dem Licht. Wieder bekommt Grace einen anderen Namen und durchschaut trotz aller Schwäche, sie ist dem Tod gerade nochmal von der Schippe gesprungen bzw. wurde von einem Father gerettet, dessen Hintergründe. Menschlichkeit taucht auch hier und da in helfender Form auf, über die man sich mit Grace sehr freut: Dr. John Allender meint es gut mit ihr und versorgt sie mit Münzen, Stiefeln und einem Cape, da über weite Strecken im Buch die Kälte ein Geselle des ständigen Hungers ist.


Ihr Weg führt Grace zurück zu ihrem Heimatort, den sie anders vorfindet, als sie es sich mit Sicherheit erträumte; sie ist inzwischen fast 19 Jahre alt und ein sanfter Mann taucht auf, der einer verstummten jungen Frau ein Haus am Fluss baut, die mit ihrer Vergangenheit ringt, bei der sich Traum und Wirklichkeit noch immer verwischen bis sie loslässt - um im Hier und Jetzt mit Mann und Kind zu leben, dem Licht entgegen.


Fazit:


Ein verstörender, aber auch sehr poetischer Roman über eine junge Frau während der großen irischen Hungersnot (1845-1849), die viele Menschenleben forderte. Lynch beschreibt diese Zeit durch die Augen von Grace mit großer Sensibilität, sprachlicher Versiertheit und Klugheit, die aus vielen Sätzen spricht. Elend, Armut und Hunger bekommen ein grausiges Bild, das vor dem Auge des Lesers entsteht; die Handlung bezieht sich (ohne direkte Rede) immer auf die Perspektive der Hauptprotagonistin Grace. Einerseits gefiel mir der Roman gut, andererseits war er mir persönlich zuweilen zu langatmig und ausschweifend. Meine Bewertung liegt daher bei 3,5 Sternen.