Simon Stranger - Vergesst unsere Namen nicht

Begonnen von Sagota, 22. September 2019, 15:44:46

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Sagota

Dieser wichtige literarische "Stolperstein", der in diesem Falle Hirsch Komissar gewidmet wurde und von dessen Leben und seinen Peinigern im besetzten Norwegen (ab 1940) der Nationalsozialisten handelt, erschien im Eichborn-Verlag, August 2019. Es ist inhaltlich keine leichte Kost und lässt den Leser - gerade in der heutigen Zeit, im Erstarken von Populisten in ganz Europa - sehr nachdenklich zurück; aber das Lesen dieses ungewöhnlich geschriebenen Romans lohnt sich für historisch interessierte LeserInnen sehr!

"In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zwei Mal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie das Licht in einer Stadt, in der der Strom ausfällt. Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen.

Ein auf wahren Begebenheiten basierender Roman, der achtzig Jahre Geschichte und vier Generationen umfasst. Eine Erzählung über den Holocaust, über Familiengeheimnisse und über die Geschichten, die wir an unsere Kinder weitergeben." (Quelle: Verlagstext)

Ausgangspunkt des Romans und der Aufarbeitung einer Familienchronik ist ein Stolperstein (Steine der Erinnerung, die vor dem jeweiligen Haus platziert wurden, in dem eine oder mehrere jüdische Familien vor dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust wohnten). Es ist der im Roman vom Verfasser mit "du" angesprochenen Hirsch Komissar, der mit seinen Eltern einst aus Russland emigrieren musste und in Norwegen mit seiner Frau Marie einen Textilladen aus dem "Nichts" erschuf. Der Familie geht es gut, bis Norwegen von den Deutschen besetzt wird und der Vater von Gerson und Lillemor denunziert und verhaftet wird. Kurzzeitig wird er als Dolmetscher, des Russischen mächtig, in Nordnorwegen eingesetzt, um dann wieder nach Falstad, einem Gefangenenlager der Nazis, verbracht zu werden. Im Zuge eines Vergeltungsschlages wegen eines Angriffes des norwegischen Widerstands wird Hirsch Komissar mit 9 weiteren unschuldigen Gefangenen im Oktober 1942 erschossen.

Auch wenn Simon Stranger einem sehr eigenwilligen Stil folgt: Seine kurzen Kapitel beginnen in alphabetischer Reihenfolge, denen jedoch entsprechende Worte vorangehen, die - wenn auch zeitlich sprunghaft - jedem Kapitel sinngemäß voranstehen, versteht er es sehr prätentiös und eindringlich, zuweilen auch beklemmend, etwaige Gedankengänge, aber auch real Erlebtes von Komissar (wie vielen weiteren unschuldig Inhaftierten) immer wieder in den Roman einfließen zu lassen. Der Hauptprotagonist ist jedoch ein Mann namens Henry Oliver Rinnan, dessen Lebensgeschichte so bizarr klingt wie das Ausmaß seiner Grausamkeiten, nachdem er es schaffte, zum Schlimmsten aller norwegischen Nazis zu werden, mit den Deutschen zu kollaborieren (dadurch die von ihm längst ersehnte "Anerkennung" zu finden),und im Jonsvannsveien 46, dem sog. "Bandenkloster" zahlreiche Menschen, die des Verrats oder des Widerstands gegen die Nazis beschuldigt wurden, grausam folterte und ermordete.

Gibt dem Leser bereits die Kindheit und Jugendzeit dieses Verbrechers sehr zu denken, der bedingt durch seine Körpergröße von 161 cm Probleme hat, sich durchzusetzen, "unauffällig" bleibt und dennoch immer mehr Gewaltpotential, Wut und Hass in sich zu mehren, so ist man im Erwachsenenalter von Rinnan zuweilen an der Grenze der eigenen Belastbarkeit, die Zeilen über seine Macht- und Gewaltfantasien, die bald in die Realität umgesetzt werden können, zu lesen: Er ist skrupellos und bar aller Gefühle, ebenso wie sein Handlanger Karl Dolmen: Mit einigen anderen versuchen sie, die Netzwerke des Widerstands zu infiltrieren, Waffen aufzuspüren und - sich gegen die eigenen Landsleute wendend - diese aufs Grausamste zu foltern und auch zu ermorden. Das Haus im Jonsvannsveien 46, das leider im Internet nur Informationen auf norwegischer Sprache preisgibt, nicht aber auf deutschen Seiten, hat eine sehr dunkle Epoche erlebt: So wundert es nicht, dass Ellen, die Frau Gersons, in diesem Haus immer mehr erschaudert und eigentlich eine andere Wohnung finden möchte, ihr Mann dies aber herunterspielt und nicht erkennt, wie sehr seine sensible Frau leidet. In diesem Zusammenhang konnte ich die Gefühle und das Verhalten von Ellen sehr gut nachvollziehen, jedoch Marie, die Frau des ermordeten Hirsch Komissar, missfiel mir sehr: Egozentrisch und leichtfertig vermittelte sie ihnen dieses Haus der Folter und der Angst, um ihren Sohn Gerson im Laden zur Hilfe zu haben.
Es geht um Flucht (nach Schweden) und um Fluchthelfer, die gerade jüdischen Flüchtlingen halfen, über die Grenze zu kommen und oft ihr eigenes Leben damit aufs Spiel setzten. Es geht um Angst der Flüchtenden (auch heute ein aktuelles Thema, denn seit dem Ende des 2. Weltkrieges gab es nicht mehr so viele Flüchtlinge auf der Welt wie seit einigen Jahren), aber auch um das Überleben. Das Weiterleben, wobei dem Leser nach dieser auf Wahrheit basierenden Lektüre sehr bewusst wird, wie viele Leben durch den Krieg zerstört wurden - und Lebenswege, Möglichkeiten sich für immer veränderten. Er ruft letztendlich dazu auf, zu verzeihen, da dies der Weg in die Zukunft sei.

Ein interessanter und nachdenklich stimmender Einblick hat der interessierte Leser auch auf die antisemitischen Anfänge bis in die heutige Zeit; die historischen Hintergründe sind gut recherchiert worden und beginnen bereits in der römischen Zeit durch die ersten Judenpogrome. Der Roman beleuchtet wie ein Scheinwerfer die Angriffe auf jüdische Siedlungen, etwa auch im russischen Zarenreich, weshalb die Familie unseres Protagonisten, dessen Name nicht vergessen werden sollte, auch die Flucht aus Russland nach Norwegen antreten musste. Man bedauert, dass die Familie während des 2. Weltkriegs nicht im sicheren Schweden verblieb (wie die Schwester von Gerson, Lillemor) und die Geschichte dieser Familie sich durch ihre Rückkehr nach Norwegen für immer veränderte...

Manche Bücher müssen weh tun, mit solch' einem haben wir es hier zu tun: Dennoch sollte man sie - oder gerade deswegen - lesen, um die Menschen und Schicksale, die hinter den bisher insgesamt 67.000 in europäischen Städten eingelassenen "Stolpersteinen" stehen, niemals zu vergessen. Und nicht nur das: Um Sorge zu tragen, dass sich solch eine dunkle Zeit weder in Deutschland noch in Europa niemals wiederholen darf! Hart an der Schmerzgrenze, aber - oder gerade deswegen - 4,5* und ein Dank an den Autor Simon Stranger, der diesen Stolperstein umgedreht und ihm eine (Roman)form gegeben hat.