Jean-Philippe Blondel - Ein Winter in Paris

Begonnen von Sagota, 08. Oktober 2018, 18:29:07

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Sagota

Jean- Philippe Blondel - Ein Winter in Paris
Deuticke, 2018
ISBN 978-3-552-06377-8
HC, 188 Seiten


Ein Brief Patrick Lestaing's katapultiert den Englischlehrer Victor, (49), zurück in die 80er Jahre - in seine Vergangenheit als Student am renommierten Lycée D. in Paris:


Als Sohn eher bildungsferner Eltern kämpft der aus der Provinz kommende 19jährige Victor sich mit viel Fleiß durch das erste, sehr harte Jahr am Lycée - von den zumeist elitären Kommilitonen ignoriert. Ein Außenseiter, von dem man annimmt, dass er ohnehin das Handtuch schmeißen wird, auch die Lehrer urteilen die Arbeiten der Studenten demütigend ab - und bringen so manchen dazu, aufzugeben. Doch Victor gehört zu den wenigen Auserwählten, die weiterkommen: Durch das harte Studium nimmt er jedoch wahr, dass er sich immer mehr den Eltern entfremdet und ihre Besorgnis kaum noch erträgt, eine bisher nicht gekannte Einsamkeit macht sich in ihm breit, die durch den Lerndruck noch verstärkt wird. An seinem Geburtstag rebelliert er erstmals gegen das System: Er kommt zu spät und beschließt spontan, Mathieu, mit dem er ab und an eine Zigarette raucht und der -  wie er ein Außenseiter aus der Klasse unter ihm ist, der versucht, im luftleeren Raum des Lycées irgendwie durchzuhalten - zum Essen einzuladen.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, da Mathieu - nach einem Schrei der Wut - über das Geländer in den Tod springt, was Victor, der seine Stimme erkennt und als erster nach draußen eilt, erst später realisieren sollte....

Blondel gelingt es ungeheuer sensibel, die Gefühlswelt, in der sich Victor nach dem Suizid von Mathieu befindet und die völlig durcheinandergeraten scheint, zu beschreiben: Alles war in Frage gestellt und Victor beginnt durch das Trauma dieses Verlusts - denn er hätte sich ohne Frage mit Mathieu anfreunden wollen - die Welt anders, neu zu begreifen: Sein eigenes Leben in den folgenden Wochen, den wir ihn als Leser begleiten, als das zu betrachten, was es ist: Kostbar.

Victor entgeht nicht, dass sowohl Studenten als auch Lehrerschaft über das Ereignis des Selbstmordes das Renommée stellen und die eigenen Interessen, dass über den Vorfall hinweggegangen wird. Diese Stimmung bringt Blondel realistisch zum Ausdruck und man fragt sich, warum alle so schnell wie möglich wieder "zur Normalität" zurückfinden wollen, besonders, weil jedem klar ist, dass Mathieu dem rauen Klima, dem Lernstress und den täglichen Demütigungen seitens der Lehrer nicht mehr gewachsen war.

Mit den Eltern Mathieu's tauchen sowohl der Vater als auch die Mutter auf, deren Bewältigung des ungeheuren Verlusts sehr unterschiedlich sind: Der Vater sucht Kontakt zu Victor und beide helfen einander, in dem sie über Mathieu sprechen, Antworten suchen. Dieser Romanteil gefiel mir besonders gut, da er zutiefst menschlich ist - und sich Menschen in Ausnahmesituationen sehr viel geben können, um ihren Weg besser weitergehen zu können. Für Victor war es nicht von Nachteil, endlich "sichtbar" zu werden, den umschwärmten, aber dennoch einsamen Paul Rialto zum Freund zu haben und dadurch überall offene Türen der Akzeptanz zu finden, da er "der Freund des Opfers" für die Mitstudenten war.

Die tiefen Empfindungen und die außergewöhnliche Ehrlichkeit Victors, seine eigene Rolle in diesem Drama betreffend als auch  in seiner Vorstellung, "wie alles hätte werden können" und Armelle sowie Mathieu betreffen, berühren zutiefst. Auch die Kochaktionen mit Patrick Lestaing, der für Victor zeitweise ein Vater wird, wie er nie zuvor einen hatte, erstaunen den Leser - und sind gleichzeitig tröstend.

Auf der Verlagsseite habe ich ein Interview des Autors gelesen, das ich an dieser Stelle nur empfehlen kann.

Einzig die Reaktion der Mutter Mathieu's, die die Treffen von Victor und ihrem Ex-Mann "krank" fand, konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie waren wichtig, für jeden der beiden. Die Tatsache, dass auch ein Suizid nichts am Lycée D. änderte, erzürnt den Leser nicht zu unrecht; auch dies leider sehr realistisch.
Die Abschlussprüfung Victor's verläuft für die Prüfer anders, als gedacht: Er ist umso entschlossener, welchen Weg er gehen wird, worin seine größte Leidenschaft besteht - was eine Frage Patrick L. an ihn gewesen war:

"Er wollte Wörter wie ein Netz über den Abgrund spinnen" (Zitat S. 184) - und Schriftsteller werden.

30 Jahre später - Victor ist inzwischen Ende 40, schreibt Patrick Lestaing ihm einen Brief, um sich mit ihm zu treffen. Er möchte dadurch "das entschwindende Gespinst der Erinnerungen zurückbringen" - und Victor stellt sich dieser Herausforderung!

Fazit:

Ich kann mich nur der Aussage von "Le Figaro" anschließen, der dieses literarische Kleinod - ein 'trouvaille' - so beschreibt:
"Es gibt niemanden, der die Verwirrung der Gefühle auch nur annähernd so bescheiben kann wie Jean-Philippe Blondel".
Von mir erhält dieses kleine, aber sehr lesenswerte und sprachlich feinfühlige Meisterwerk eine absolute Empfehlung, 5* und 100° auf der "Belletristik-Couch".