Verena Kessler - Die Gespenster von Demmin

Begonnen von Inge78, 13. Januar 2023, 15:32:53

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Inge78

ZitatWie sehr bestimmt die Geschichte unsere Gegenwart? Verena Keßlers Debüt über die Haltlosigkeit des Erwachsenwerdens ,,brummt nur so vor Lebendigkeit. Traurig, witzig, abgründig – Bombe!" Stefanie de Velasco

Larry lebt in einer Stadt mit besonderer Geschichte – Ende des Zweiten Weltkriegs fand in Demmin der größte Massensuizid der deutschen Geschichte statt. Für Larry ist ihre Heimatstadt aber vor allem eins: langweilig. Sie will so schnell wie möglich raus in die Welt und Kriegsreporterin werden. Während Larry mit den Unzumutbarkeiten des Erwachsenwerdens kämpft, steht einer alten Frau der Umzug ins Seniorenheim bevor. Beim Aussortieren ihres Hausstands erinnert sie sich an das Kriegsende in Demmin und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Mit Leichtigkeit und Witz erzählt Verena Keßler von Trauer und Einsamkeit, von Freundschaft und der ersten Liebe. Ein Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und die Möglichkeit, sie zu überwinden.


"Es nieselte schon wieder, natürlich, wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen."

Die 17-jähringe Larissa will nur weg aus ihrem Heimatdorf, für sie Demmin vor Allem eins, langeweilig. Sie will raus in die Welt, will Kriegsreporterin werden, und ihr Training für diesen Zukunftsplan ist teilweise ganz schön gefährlich. Und in ihrer Familie gibt es auch einige Probleme. Die 93-jährige Frau Dohlberg hat mit ihren ganz eigenen Dämonen zu kämpfen, sie lebt ihr ganzes Leben schon in Demmin, hat den 2.Weltkriege und den Massensuizid in Demmin überlebt. Und soll jetzt ins Pflegeheim. Beide haben mit ihren Gespenstern zu kämpfen.

Ich habe das Buch schon ziemlich lange bei mir liegen, irgendwie ist es immer vom Lesestapel gerutscht. Ich bin froh, es jetzt in einer Leserunde gelesen zu haben, die einen wirklich intensiven Austausch ermöglicht hat über die verschiedenen so wichtigen Themen, die dieses Buch behandelt. Ich muss auch zugeben, Demmin sagte mir nichts, einer der größte Massensuizide auf deutschem Boden Ende des 2.Weltkrieges war mir bislang nicht präsent. Die Story hier ist fiktiv, aber die geschichtlichen Ereignisse sind korrekt und das Buch regt dazu an, mehr darüber zu recherchieren. Doch auch Freundschaft und Liebe, Verlust und Trauer, Alt werden und Pflege sind Thema dieses wirklich nicht dicken Buches. Vermeintlich ein Jugendbuch, gerade wegen der jugendlichen Protagonistin ist die Geschichte doch voller Tiefe und hat mich emotional mitgenommen. Ich bin begeistert davon mit wenig Worte die Autorin es schafft, zu erzählen und zu berühren. Das Buch liest sich trotz aller Traurigkeit überraschend locker leicht weg. Und ich mag auch den feinen Humor, der immer wieder mal durchblitzt. Die Personen sind mir ans Herz gegangen und ich werde sie wohl so schnell auch nicht vergessen.

Kein einfaches Buch, keine einfachen Themen aber so lesenswert und wichtig und eine absolute Leseempfehlung. Demmin sollte nicht vergessen werden.

[note 2+]
Words are, in my not-so-humble opinion, our most inexhaustible source of magic. Capable of both inflicting injury, and remedying it - Albus Dumbledore

Im finst´ren Förenwald, da wohnt ein greiser Meister. Er ficht gar furchtlos kalt sogar noch feiste Geister.
(aus "ES" von Stephen King)

Fiktion ist wie ein Spinnennetz, das, auch wenn nur vielleicht ganz leicht, an allen vier Ecke des Lebens befestigt ist.
- Virginia Woolf

SilkeS.

Das Buch haben wir seit Jahren bei mir auf der Arbeit im Bestand und neugierig wurde ich auf das Buch, nach einer Besprechung auf dem Bücherpodcast: ,,Auf ein Buch"
Als dann der Vorschlag kam, das Buch hier im Buchrebellin Forum als Leserunde zu lesen, war sich sofort dabei und das war auch gut so, denn alleine hätte ich  niemals die ganze Tiefe der Geschichte begriffen und mir so intensive Gedanken darüber gemacht.
Beim Anlesen war ich sehr positiv überrascht, wie locker und leicht sich das Buch lesen ließ. Ich war von schwerer, historischer Lektüre ausgegangen, denn der Hintergrund von Verena Kesslers Roman ist ein reales historisches Ereignis, im Jahre 1945
Demmin ist eine Kleinstadt im Mecklenburg-Vorpommern wo es 1945 zu einem Massenselbstmord mit unzählige, aber geschätzt weit über 1000 Menschen den Freitod wählten.
Dies  ist  der größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte und der Ort muss hier einiges an Aufarbeitung leisten, was auch noch bis in die heutige Generation reicht.
Das war mir bis dahin gänzlich unbekannt. Ich hatte weder von dem Ort noch von dem tragischen Ereignis gehört, bevor ich das Buch las.
>>Der Krieg war nahezu zu Ende und die Truppen zogen sich zurück. Dabei wurden alle Brücken gesprengt, die aus der Stadt führten und schnitten  so die  den im Ort lebenden Menschen den Weg zur Flucht ab. Aus dem Osten kam zur selben Zeit  Rote Armee und die Menschen hatten so große Angst und waren von dem NS-Regime so sehr traumatisiert vor  russischen Soldaten sich das Leben zu nahmen  Es handelte sich bei den Einwohner überwiegen um Frauen, da die Männer noch im Krieg waren und sie hatten Angst vor Misshandlung, und Vergewaltigung, so dass sie den  Selbstmord durch Vergiftung und andere Methoden wählten.<<
Bei diesem Roman handelt es sich um den  Debütroman der Autorin, der in der Gegenwart spielt. Hauptperson der Geschichte ist die 15-jährige Larry. Sie wohnt bei ihrer Mutter und ist viel alleine. So hat sie viel Zeit sich  ihrem  Training für ihre Berufswahl vorzubereiten. Sie will Kriegsreporterin werden und stellt sich  dafür ungewöhnlichen Herausforderungen, so z.B. Minutenlang kopfüber von einem Apfelbaum zu hängen, oder ihre Hand in eiskaltes Wasser zuhalten, bis kurz vor vermutlich Erfrierungsschäden. Auch den Selbstversucht an Waterboarding ist sie nicht abgeneigt für.  Generell ist aber Larry sehr  selbstbewusst und schon fast ein bisschen vorlaut. Aber sie weiß sich auch zu benehmen und ist dazu noch sehr hilfsbereit.
In dem Roman gibt es noch eine kleinere Nebenrolle, die von der älteren  Frau Dohlberg kommt. Sie ist  ältere Dame, ziemlich gebrechlich alleinstehende, bis auf einen Neffen, der ihr bei dem Verkaufs und Abtransport ihrer Mobiliars hilft, da ihr ein Umzug in ein Pflegeheim bevorsteht. Sie ist eine der Überlebenden, des  Massenselbstmord in Demmin.
Sie quälen die vielen grauenhaften Erinnungen an den verherrenden Tag und sie muss sich jeden Tag neu den Gespenstern der Vergangenheit stellen.

Zitat von Frau .S 143/144
,,Stau auf der Autobahn. Sagt der Nachrichtensprecher, und sie schüttelt den Kopf. Was wissen die von Stau, denkt sie, was wissen die von Nichtwegkommen, von Panzern auf den Straßen, von gesprengten Brücken. Im Wasser trieben leblose Körper, am Ufer lagen die Schwäne, man hatte sie erschossen. Sie blieben nicht stehen, liefen weiter, Richtung Hafen, Richtung Brücke, als sei die Explosion  wenige Stunden zuvor, ein Irrtum gewesen.  Sie versuchte den Blick auf der Straße zu halten, wollte nicht nach links sehen, wo die Penne träge floss, sah schließlich doch hin, sah Frauen, die sich ihre Kinder an den Leib banden, sah Soldaten, die Menschen rauszogen, sah andere die in die Menge schossen. Die Brücke war zerstört, sie hatte es gewusst, und trotzdem blieb ihr die Luft weg, als sie erkannte, dass sie nicht hinüberkommen würden, dass sie nicht vor und nicht zurück konnten"

Die Stärke des Buches sehe ich nicht nur in dem leichten, flüssigen Schreibstil, sondern, auch bei den Gespenstern, von  jedem einzelnen Bewohners Demmins, von Jung bis Alt.
Von Larry, ihrer Freundin Sarina, dessen Schwarm Timo, der alten Frau Dohlberg, der Lehrerin Frau Ratzlow , etc. Die  Erinnerung an den Selbstmordes 1945 und die Geschichte der Ortes werfen auch Jahre später noch ihrer eigenen Schatten auf den Ort und dessen Bewohner und das verleiht dem Buch eine sehr Tiefe die auch nach  Beendigung des Buches nachhallt. Jeder Bewohner hat auf seine eigene Art mit dem Tod zu tun, kommt oder kam mit dem Tod in Berührung und verändert dessen Leben und jeder muss auf seine Weise damit umgehen lernen. Man hat mein Nachdenken über die Geschichte den Eindruck dass das Erbe der Stadt sein Erbe an die Bewohner weitergegeben und  sich über die Generationen fortpflanzt. Das klingt nun sehr düster und melancholisch, aber die Stimmung des Buches vermittelt das nicht, sondern ich fand es am Ende trotzdem irgendwie tröstend, dass nämlich die Bewohner empathisch und liebenswert für einander einstehen und für ein anders da sind . Die Geschichte hat sich leicht lesen lassen, aber die Aussage hallt noch sehr lange nach Beendigung des Buches nach

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