Verlag: Fischer
erschienen: 2015
Seiten: 400
Ausgabe: Taschenbuch
ISBN: 9783733500931
Klappentext:
April ist fort. Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt. Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht? Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.
Rezension:
Ich entschuldige mich schon einmal vorab, für diese wahrscheinlich ausufernde Rezension, aber das liegt an Phoebe und an April und an Lilly, die mich so tief berührt haben und mir viele neue Worte für Dinge gezeigt haben, von denen ich dachte, es gäbe gar keine anderen Worte dafür.
Das Buch kann man auch für sich sehen, aber es ist durchaus hilfreich, sich vorher kurz mit der Autorin zu beschäftigen. Lilly Lindner veröffentliche 2011 mit Mitte 20 ihre Autobiographie „Splitterfasernackt“, in der sie davon erzählt, wie sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Lindner wurde magersüchtig und verkaufte sich später als Prostituierte. Das Buch war ein großer Bestseller. Nicht nur wegen des grausamen Schicksals der Autorin, sondern besonders wegen ihres literarischen Talentes, auf das ich später noch eingehen werde. Ich habe ihr Buch damals nicht gelesen, weil ich normalerweise keine Erfahrungsbücher lese, von daher ging ich vollkommen unbedarft an ihr erstes Jugendbuch heran. Nur um gestern abend nach Beenden des Romans alle ihre bisherigen Bücher zu bestellen.
„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist keine leichte Lektüre. Das Thema ist traurig und es erschüttert einen um so mehr, weil Phoebe und April einem so nah sind, wie wirkliche Geschwister und weil Lilly Lindner eine Sprache hat, der man sich nicht entziehen kann. Eine Sprache, die einen lehrt, das Worte nicht einfach nur Worte sind, sondern das man sie neu verbinden kann. Immer wieder überraschen die Protagonisten mit Gedanken und Gefühlen, die noch nie jemand auf dieser Welt mit diesen Worten ausgesprochen hat und ich habe mich auf jeder Seite gefragt, wieso hat das noch nie jemand so ausgesprochen? Wieso denken nicht mehr Menschen so? Wieso findet Lilly Worte für meine Gedanken, obwohl sie sie gar nicht kennt?
Nach fünfzig Seiten habe ich aufgehört mir wunderschöne Sätze zu markieren, weil es eigentlich auf jeder Seite eine handvoll davon gab und mein Buch mittlerweile wie eine explodierte „Bibliothek der schönen Worte“ aussah.
„Ich glaube, es gibt bei Erwachsenen immer wieder Momente, in denen sie sich fragen, warum sie all die Dinge tun, die sie tun. Und dann überlegen sie ganz heftig, was sie stattdessen machen könnten. Sie kriegen Migräne. Sie nehmen Tabletten. Und am Ende machen sie dann doch das Gleiche, was sie auch schon vor dem Nachdenken getan haben. Aber wenn man vor dem Denken das Gleiche weiß wie nach dem Denken, dann ist man entweder nicht sehr klug, oder man hat unvollständig gedacht, oder in die falsche Richtung. Bei Frau Sener ist es besonders schlimm. Sie ist erst vierzig, aber sie sieht aus, als wäre sie schon neunundneunzig – das ist das Alter, das auf Brettspielen als obere Begrenzung angegeben ist. Danach ist man zu alt für Spiele, dann beginnt der Ernst des Leben.“ (S.55.)
Ich möchte vorweg nehmen, dass es in diesem Buch nicht wirklich um Magersucht geht. Die Magersucht ist ein Symptom und wird übrigens auch kaum beschrieben. Es geht viel mehr um die innere Welt von zwei Kindern, die so außergewöhnlich sind, dass ihre Eltern 24 Stunden am Tag mit ihnen überfordert sind. Es geht darum, wie Phoebe mit dem Schmerz umgeht, weil ihre Schwester monatelang fern von ihr in einem Krankenhaus lebt und um ihr Leben kämpft, während Phoebe keine Nachricht bekommt und ganz allein mit einem erstarrten Elternpaar leben muss. Es geht darum, wie April alleine mit ihren Gedanken und ihrem Schweigen in einem Krankenhausbett liegt und außer Worten, die sie für Phoebe in Briefen niederlegt, nichts mehr zu haben scheint, um diese Stille zu durchbrechen.
Ich mag eigentlich keine Briefromane, aber ich glaube ohne dieses Stilmittel hätte „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ nicht diese emotionale und literarische Wucht. Interessant ist so zudem, wie unterschiedlich die beiden Schwestern z.B. die Beziehung zu den Eltern sehen. Berührend ist es aber vor allen Dingen, wie sehr die beiden sich lieben und wie sehr sie einander brauchen. Die neunjährige Phoebe mag den meisten Leser wohl näher sein. Sie ist wie ein kleiner Kobold mit ihrem nie stillstehenden Plappermäulchen und den wie April es ausdrückt „butterkecksblonden“ Haaren. Sie trägt ihr Herz und ihren Verstand auf der Zunge und lässt sich nicht verbiegen, auch wenn ihre Eltern sie meistens nur fragend anschauen, weil sie mal wieder etwas gesagt hat, was neunjährige Kinder eigentlich nicht sagen. Tatsächlich sagt sie viele Dinge, die nicht mal Erwachsene sagen, weil diese sich längst an die gängige Norm angeglichen haben.
Ich habe das Buch in einer Leserunde bei lovelybooks gelesen und es gab dort auch einen Fragetag, wo die Autorin uns Rede und Anwort stand. Danach hatte das Buch für mich ehrlich gesagt noch eine andere Kraft als vorher, denn tatsächlich sind Phoebe und April wohl eins. Sie sind Lilly. Sie sind die beiden Wege, die Lilly Lindner hätte einschlagen können, wenn das Leben für sie anders gelaufen wäre. Sowohl im Positiven, als auch im Negativen.
Für mich ist der Roman allerdings auch ein Zeichen für ein besseres Miteinander. Mehr aufeinander achtgeben, mehr hinschauen, mehr hinhören, auch wenn eigentlich das Gegenüber gar nichts sagt. Ja, es ist wohl auch eiin Plädoyer andere Menschen so sein lassen zu dürfen, wie sie sind. Wenn ein Kind anders ist, dann ist es anders. Wenn es über die Maßen talentiert und intelligent ist, dann möchte es vielleicht nicht wie die anderen auf dem Spielplatz Ball spielen oder später Partys feiern. Deswegen sind diese Menschen nicht weniger normal, als die anderen.
Aber vielleicht gibt es ja auch gar keine hochbegabten Menschen, sondern nur ziemlich viele tiefbegabte.(S. 304).
Tatsächlich hat Lilly Lindner ein bisschen in mir das selbstbewusste Pflänzchen genährt. Ich bin vielleicht anders, aber wer hat mir eigentlich gesagt, dass ich nicht wunderbar bin? Ich glaube nicht viele Bücher können so berühren, vielleicht sogar etwas tief in einem selbst verändern. Ich bin 37 Jahre alt und ich habe sicherlich weit über tausend Bücher in meinem Leben gelesen, aber dies ist Stand heute mein absolutes Lieblingsbuch und Lilly Lindner ist für mich eine wahre Heldin. Eine Wort-Heldin!
Note: 1 (mit ganz vielen Extra-Sternchen)
Hallo Steffi,
das hört sich echt total spannend an. Mich würde aber noch das Thema Magersucht in dem Buch interressieren. Es geht also weniger um das körperliche Problem, sondern um das psychische? Oder wird das insgesamt nicht so sehr thematisiert?
LIebe Marie!
Ich versuche das mal zu beantworten, ohne zu viel zu verraten. Ein Großteil des Romans besteht aus Briefen von Aprils Schwester Phoebe, die im Prinzip gar nicht richtig versteht, was Magersucht überhaupt ist. Natürlich wird an ein zwei Stellen beschrieben, wie dünn April ist und das sie nichts isst. Aber es ist wirklich ganz ganz selten und nicht das Hauptthema des Romans. In Bezug auf April geht es eher darum, wieso sie überhaupt Magersucht auch, aber das ist eher ein Nebenthema. Es geht mehr um die Beziehung der Schwestern, der Eltern und wie alle mit der Situation umgehen.
LIebe Grüße,
Steffi
Hallo Steffi,
WOW!
Du hast mich jetzt total neugierig auf „mehr“ gemacht!
Aber ich habe doch noch ein, zwei Zweifel…. wie du schon sagst, ich mag eigentlich keine Briefromane. Ich nämlich auch nicht. Ich mag das gesprochene Wort in Romanen so sehr, die Konversation, die wörtliche Rede unter den Protagonisten.
Der andere Zweifel betrifft die Trübseligkeit die man beim Lesen erhält. Verfällt man nicht in Mitleid und sieht überall nur graue Wolken?
Ich bin gerade sehr froh, deinen Blog gefunden zu haben, denn ich lese auch für mein Leben gern!
Liebe Grüße,
Suse
Liebe Suse!
Keine Angst, es gibt ganz viel Dialoge in dem Buch. Wenn Phoebe mit ihren Eltern redet z.B. oder mit ihren Freundinnen. Sie redet an sich halt sehr viel! :-)
Hm… Mitleid… natürlich tuen einem die zwei Mädchen leid, ehrlich gesagt, war bei mir aber immer die Bewunderung für ihre Großartigkeit größer. Auch wenn ich natürlich an der ein oder anderen Stelle ein Tränchen verdrückt habe. Und irgendwie, wo Phoebe ist, sind niemals lange graue Wolken! :-)
Falls Du es liest, würde ich mich freuen, wenn Du mir erzählst, wie Du das Buch empfunden hast.
Ich freue mich von Dir zu lesen!
Liebe Grüße,
Steffi