Lindner, Lilly: Die Autobiographie der Zeit

Verlag: Droemer
erschienen:
2016
Seiten:
240
Ausgabe:
Hardcover
ISBN:
3426305402

Klappentext:

„Ich malte Dünen in den Sand und Löcher in den Boden. Ich zündete Vulkane an und löschte Seen aus. Ich wurde übermütig, als ich den Mut verlor. Ich warf mit Wasser, es wurde zu Hagel. Ich warf mit Sand, er wurde zu Stein. Ich warf eine Feder, da flog ein Vogel davon, und ich weinte, weil ich wusste, es war nur ein Traum. “

Lilly Lindners neuer Roman ist eine faszinierende Geschichte über die Zeit – voller Weisheit und Poesie.

Rezension:

Lilly Lindners Roman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist eines meiner absoluten Lieblingsbücher und hat mich nachdrücklich bewegt. Die junge Autorin, die mit „Splitterfasernackt“ ihr eigenes Schicksal literarisch auf fulminante Art und Weise verarbeitete, ist ein sprachliches Ausnahmetalent. Sie versteht es wie niemand sonst mit Worten zu spielen und dabei eine so unglaubliche Schönheit zu Papier zu bringen, dass ich mich immer wieder frage, wie sie dies schafft.

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Links to Love #2

Links to Love

Wie schön, dass die neue Rubrik „Links to Love“ bei Euch so gut ankommt. Auch heute habe ich für Euch wieder eine handvoll interessante Links.

1) Thomas Brasch hat einen wunderbaren Artikel über die heutige Literaturkritik geschrieben. Ich möchte zu dem Artikel eigentlich gar nicht viel schreiben, denn er spricht für sich. Als Appetizer ein kleines Zitat aus dem Artikel: [quote]Mein Wunsch ist ganz schlicht und einfach: nehmt euch ein Beispiel am Ressort „Reise“. Würde dort regelmäßig vierspaltig berichtet, wie Furz langweilig die Wanderung durch die Tiroler Alpen sei oder wie enttäuschend die Gourmettour durchs Elsass verlief oder wie tröge der Abstecher ins Mekong-Delta war, dann könnten das Ressorts wohl nach wenigen Wochen schließen.[/quote]

2) Es ist zwar ein älterer Artikel aus dem Jahr 2012, aber da ich Lilly Lindner erst gerade entdeckt habe, möchte ich ihn trotzdem heute vorstellen. In der Zeitschrift Emma gibt es ein kleines Porträt. Eindringlich und wunderschön geschrieben.

3) Vielleicht nicht ganz so buchaffin, aber ich liebe sie! Die neue „Hattu Häschen“ Produktpalette von Moses. Wir haben im Laden im Weihnachteschäft die neuen Prospekte von Moses bekommen und meine liebe Kollegin Janina und ich haben den Rest der Belegschaft an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht, weil wir uns die ganze Zeit supertolle neue „Hattu-Sprüche“ ausgedacht haben. Lieber Moses Verlag… falls Ihr Ideen braucht? In diesem Sinne „Hattu Spaß mit dem Artikel, muttu kommentieren“. :mrgreen: 

Lindner, Lilly: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Lilly Lindner Was fehlt, wenn ich verschwunden bin Cover Verlag: Fischer
erschienen:
2015
Seiten:
400
Ausgabe:
Taschenbuch
ISBN:
9783733500931

Klappentext:

April ist fort. Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt. Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht? Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.

Rezension:

Ich entschuldige mich schon einmal vorab, für diese wahrscheinlich ausufernde Rezension, aber das liegt an Phoebe und an April und an Lilly, die mich so tief berührt haben und mir viele neue Worte für Dinge gezeigt haben, von denen ich dachte, es gäbe gar keine anderen Worte dafür.

Das Buch kann man auch für sich sehen, aber es ist durchaus hilfreich, sich vorher kurz mit der Autorin zu beschäftigen. Lilly Lindner veröffentliche 2011 mit Mitte 20 ihre Autobiographie „Splitterfasernackt“, in der sie davon erzählt, wie sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Lindner wurde magersüchtig und verkaufte sich später als Prostituierte. Das Buch war ein großer Bestseller. Nicht nur wegen des grausamen Schicksals der Autorin, sondern besonders wegen ihres literarischen Talentes, auf das ich später noch eingehen werde. Ich habe ihr Buch damals nicht gelesen, weil ich normalerweise keine Erfahrungsbücher lese, von daher ging ich vollkommen unbedarft an ihr erstes Jugendbuch heran. Nur um gestern abend nach Beenden des Romans alle ihre bisherigen Bücher zu bestellen.

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist keine leichte Lektüre. Das Thema ist traurig und es erschüttert einen um so mehr, weil Phoebe und April einem so nah sind, wie wirkliche Geschwister und weil Lilly Lindner eine Sprache hat, der man sich nicht entziehen kann. Eine Sprache, die einen lehrt, das Worte nicht einfach nur Worte sind, sondern das man sie neu verbinden kann. Immer wieder überraschen die Protagonisten mit Gedanken und Gefühlen, die noch nie jemand auf dieser Welt mit diesen Worten ausgesprochen hat und ich habe mich auf jeder Seite gefragt, wieso hat das noch nie jemand so ausgesprochen? Wieso denken nicht mehr Menschen so? Wieso findet Lilly Worte für meine Gedanken, obwohl sie sie gar nicht kennt?

Nach fünfzig Seiten habe ich aufgehört mir wunderschöne Sätze zu markieren, weil es eigentlich auf jeder Seite eine handvoll davon gab und mein Buch mittlerweile wie eine explodierte „Bibliothek der schönen Worte“ aussah.

„Ich glaube, es gibt bei Erwachsenen immer wieder Momente, in denen sie sich fragen, warum sie all die Dinge tun, die sie tun. Und dann überlegen sie ganz heftig, was sie stattdessen machen könnten. Sie kriegen Migräne. Sie nehmen Tabletten. Und am Ende machen sie dann doch das Gleiche, was sie auch schon vor dem Nachdenken getan haben. Aber wenn man vor dem Denken das Gleiche weiß wie nach dem Denken, dann ist man entweder nicht sehr klug, oder man hat unvollständig gedacht, oder in die falsche Richtung. Bei Frau Sener ist es besonders schlimm. Sie ist erst vierzig, aber sie sieht aus, als wäre sie schon neunundneunzig – das ist das Alter, das auf Brettspielen als obere Begrenzung angegeben ist. Danach ist man zu alt für Spiele, dann beginnt der Ernst des Leben.“ (S.55.)

Ich möchte vorweg nehmen, dass es in diesem Buch nicht wirklich um Magersucht geht. Die Magersucht ist ein Symptom und wird übrigens auch kaum beschrieben. Es geht viel mehr um die innere Welt von zwei Kindern, die so außergewöhnlich sind, dass ihre Eltern 24 Stunden am Tag mit ihnen überfordert sind. Es geht darum, wie Phoebe mit dem Schmerz umgeht, weil ihre Schwester monatelang fern von ihr in einem Krankenhaus lebt und um ihr Leben kämpft, während Phoebe keine Nachricht bekommt und ganz allein mit einem erstarrten Elternpaar leben muss. Es geht darum, wie April alleine mit ihren Gedanken und ihrem Schweigen in einem Krankenhausbett liegt und außer Worten, die sie für Phoebe in Briefen niederlegt, nichts mehr zu haben scheint, um diese Stille zu durchbrechen.

Ich mag eigentlich keine Briefromane, aber ich glaube ohne dieses Stilmittel hätte „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ nicht diese emotionale und literarische Wucht. Interessant ist so zudem, wie unterschiedlich die beiden Schwestern z.B. die Beziehung zu den Eltern sehen. Berührend ist es aber vor allen Dingen, wie sehr die beiden sich lieben und wie sehr sie einander brauchen. Die neunjährige Phoebe mag den meisten Leser wohl näher sein. Sie ist wie ein kleiner Kobold mit ihrem nie stillstehenden Plappermäulchen und den wie April es ausdrückt „butterkecksblonden“ Haaren. Sie trägt ihr Herz und ihren Verstand auf der Zunge und lässt sich nicht verbiegen, auch wenn ihre Eltern sie meistens nur fragend anschauen, weil sie mal wieder etwas gesagt hat, was neunjährige Kinder eigentlich nicht sagen. Tatsächlich sagt sie viele Dinge, die nicht mal Erwachsene sagen, weil diese sich längst an die gängige Norm angeglichen haben.

Ich habe das Buch in einer Leserunde bei lovelybooks gelesen und es gab dort auch einen Fragetag, wo die Autorin uns Rede und Anwort stand. Danach hatte das Buch für mich ehrlich gesagt noch eine andere Kraft als vorher, denn tatsächlich sind Phoebe und April wohl eins. Sie sind Lilly. Sie sind die beiden Wege, die Lilly Lindner hätte einschlagen können, wenn das Leben für sie anders gelaufen wäre. Sowohl im Positiven, als auch im Negativen.

Für mich ist der Roman allerdings auch ein Zeichen für ein besseres Miteinander. Mehr aufeinander achtgeben, mehr hinschauen, mehr hinhören, auch wenn eigentlich das Gegenüber gar nichts sagt. Ja, es ist wohl auch eiin Plädoyer andere Menschen so sein lassen zu dürfen, wie sie sind. Wenn ein Kind anders ist, dann ist es anders. Wenn es über die Maßen talentiert und intelligent ist, dann möchte es vielleicht nicht wie die anderen auf dem Spielplatz Ball spielen oder später Partys feiern. Deswegen sind diese Menschen nicht weniger normal, als die anderen.

Aber vielleicht gibt es ja auch gar keine hochbegabten Menschen, sondern nur ziemlich viele tiefbegabte.(S. 304).

Tatsächlich hat Lilly Lindner ein bisschen in mir das selbstbewusste Pflänzchen genährt. Ich bin vielleicht anders, aber wer hat mir eigentlich gesagt, dass ich nicht wunderbar bin? Ich glaube nicht viele Bücher können so berühren, vielleicht sogar etwas tief in einem selbst verändern. Ich bin 37 Jahre alt und ich habe sicherlich weit über tausend Bücher in meinem Leben gelesen, aber dies ist Stand heute mein absolutes Lieblingsbuch und Lilly Lindner ist für mich eine wahre Heldin. Eine Wort-Heldin!

Note: 1 (mit ganz vielen Extra-Sternchen)

Lesetagebuch #2 – Verliebt in Lilly Lindner

Lilly Lindner und Ece Temelkuran

Nun – eigentlich ist das Foto ein bisschen geflunkert. Also ein kleines bisschen. Ein ganz ganz kleines bisschen. Ach scheiß drauf! Es ist die größte Lüge seit Maradonas irregulärem Tor  mit der „Hand Gottes“.  (95% der weiblichen Leser googlen nun, was das ist :mrgreen: ).

Eigentlich lese ich nämlich noch:
Kiera Cass: The Selection
Robert Galbraith: Der Ruf des Kuckucks
Sylvia Day: Hingabe
Waltraut Levin: Der Wind trägt die Worte – Geschichte und Geschichten der Juden (Langzeitprojekt – zwei Bände mit jeweils ca. 800 Seiten)

„Hingabe“ (der vierte Crossfire Band) liegt allerdings schon seit Ende November brach und fängt sozusagen schon an vor sich hin zu müffeln. Ich habe die ersten drei Bände wirklich gerne gelesen, aber der vierte Band ist einfach nur doof. Keine Ahnung, ob ich den noch zu Ende lese.

Momentan aber auf der Prioritätenliste ganz oben, sind die beiden Bücher auf dem Foto. Einmal „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann“ von Ece Temelkuran aus dem Atlantik Verlag und „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ von Lilly Lindner. Das Schöne ist – beide Bücher haben überhaupt nichts gemein, aber beide sind auf ihre Art und Weise ganz besondere Bücher.

Die türkische Autorin Ece Temelkuran überzeugt mich sehr mit ihrem Roman. Ich bin zwar noch nicht ganz so weit, weil sich der Roman nicht mal eben so weglesen lässt und es zwischendurch komische Szenensprünge gibt, an die man sich mal erstmal gewöhnen muss, aber die Handlung ist sehr interessant und Temelkuran streut so wunderschön gebaute Sätze ein, geschmückt mit außergewöhnlichen Metaphern, dass man am liebsten mit dem Textmarker durch die Seiten pflügen will. Mache ich natürlich nicht. Dafür hilft mir meine Moses Haftmarker-Rolle, die meiner momentanen Lektüre folgt wie der Hund dem Herrchen. Aus meinem Buch hängen überall kleine Papierschnipsel.

Noch schlimmer geht es mir mit Lilly Lindners neuem Roman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“, den ich gerade in einer Leserunde bei LovelyBooks lese. Die Community veranstaltet dieses Jahr eine Jahreschallenge mit den S.Fischer Verlagen und ich habe mir vorgenommen, da mal mitzumachen. Das Buch für den ersten Monat klang nach der Leseprobe wirklich gut, aber trotzdem bin ich mit wenig Erwartungen an das Buch gegangen. Ich wusste, dass Lindner mit ihrem Erstling „Splitterfasernackt“, in dem sie ihre eigene Vergangenheit verarbeitet hat, einen großen Erfolg hatte, aber irgendwie hatte ich die Autorin trotzdem nie auf dem Schirm. Und nun sitze ich hier und frage mich, wie mir das passieren konnte.

Der Roman ist in einem Wort „unbeschreiblich unfassbar wundebar“ (wer behauptet dass ich zählen kann… ). Es geht um eine vierköpfige Familie, in der die ältere Tochter aufgrund einer Magersucht im Krankenhaus ist. Weit weg von ihrer Familie. Phoebe, die kleinere Schwester, deren Alter nie genannt wird, aber die ich nach knapp der Hälfte des Buches auf ca. 10 Jahre schätzen würde, schreibt ihrer Schwester April Briefe und diese Briefe bilden im Prinzip den Roman. Und dieses wundervolle altkluge und warmherzige Mädchen hat sich tief in mein Herz vergraben und Lindners Schreibe gleich mit.

Ich kann dem glaube ich mit meinen Worten gar nicht gerecht werden, aber die Autorin verfasst Sätze, die mich innehalten und aufseufzen lassen und die mich schon das ein oder andere Mal tief berührt haben und die tatsächlich, was ich in der Form noch niemals bei einer Autorin hatte, irgendetwas in mir bewegen. Sehr literarisch, poetisch und verspielt, dabei aber klar und leicht zu verstehen. Wunderschöne Bilder und Wortspiele, die ich noch nie gelesen habe. Auf Seite 55 bin ich beim Lesen aufgesprungen und an den PC gestürzt, um meine Gedanken in der Leserunde sofort aufzuschreiben.

Leider habe ich die vage Vermutung, dass Lindner mir im Laufe des Romans das Herz brechen wird. Das kann doch alles fast nicht gut ausgehen.