Cass, Kiera: Selection – Der Erwählte

Band 3 Selection Reihe

Originaltitel: The One
Verlag:
Sauerländer
erschienen:
2015
Seiten:
414
Ausgabe:
Hardcover
ISBN:
3737364982
Übersetzung:
Susann Friedrich

Klappentext:

35 perfekte Mädchen waren angetreten. Nun geht das Casting in die letzte Runde: Vier Mädchen träumen von der Krone Illeás und einer Märchenhochzeit. America ist noch immer die Favoritin des Prinzen, doch auch ihre Jugendliebe Aspen umwirbt sie heftig. Sie zögert, denn sie liebt beide. Doch jetzt ist der Moment der Entscheidung gekommen: America hat ihr Herz vergeben, mit allen Konsequenzen. Komme, was wolle …

Rezension:

Der dritte und übrigens nicht abschließende Band der Selection Reihe (ehemals Trilogie ;-) ) konnte in Bezug auf die beiden Vorgänger noch mal eine Schüppe drauf legen, weswegen ich ihm auch eine leicht bessere Bewertung gebe. Das nervige Love-Triangle zwischen America, Maxon und Aspen löst sich glücklicherweise in Wohlgefallen auf. Nach dem zweiten Band hatte ich hier ehrlich gesagt schwerste Befürchtungen, aber Cass knüpft hier nahtlos am Vorgänger an und Aspen gerät zumindest in der ersten Hälfte des Romans zur Nebensache.

Auch das hin und her zwischen Maxon und America bessert sich. Auch wenn bei mir das „du musst zuerst sagen, dass ich dich liebe“ ein amüsiertes Augenrollen hervorruft, so war es doch nicht zu übertrieben und die Autorin erklärt es auch ganz gut. Das Casting bringt es nun einmal mit sich, dass keiner seine Gefühle leichtfertig offenbart, um nicht enttäuscht zu werden. Die anderen Mädchen geraten in „Der Erwählte“ allerdings auch arg ins Hintertreffen. Bis auf das Biest Celeste, die im Endspurt ihre wahre Persönlichkeit zeigen darf, habe ich die anderen zwei Kandidatinnen ehrlich gesagt schon wieder vergessen. Sie sind doch recht profillos und sind für die Handlung zu unwichtig, um im Gedächtnis zu bleiben.

Die Sache mit den Rebellen nimmt Fahrt auf und wirkt endlich auch realistischer und gefährlicher, weil Maxon und America versuchen dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Hier gibt es ein paar wirklich spannende Szenen, die vor allen Dingen auch zeigen, dass in Maxon mehr steckt, als er wahrscheinlich selbst glaubt. Überhaupt werden politische Dinge immer wichtiger und America wird sich ihrer Verantwortung bewusst. Es geht nicht mehr nur um ihr Herz und ihr Leben, sondern um das Schicksal eines ganzen Volkes.

Die Protagonistin wird trotz Bedrohungen von innen und außen immer mutiger und schafft es selbst in brenzlichen Situationen eine Entscheidung aus dem Herzen heraus zu treffen. Nicht nur einmal bringt sie sich dabei in Gefahr, wirkt jedoch nie wie eine Überheldin. Sie hat einfach das Herz am rechten Fleck und wächst im Casting über sich hinaus. Gerade in Bezug darauf, lässt die Reihe die schnöde Prinzessinnenwelt komplett hinter sich.

Leider geht es mir am Schluss persönlich ein bisschen zu schnell und ich hätte mir vielleicht 50 Seiten mehr gewünscht, um dem Happy End auch den richtigen Rahmen zu geben. „Der Erwählte“ setzt einen ersten Schlusspunkt der Reihe, lässt aber noch genügend Stoff für weitere Romane. Insgesamt habe ich die Reihe bisher richtig gerne gelesen. Für jeden Band habe ich maximal 3 Tage gebraucht, was sicherlich für sich spricht. Dennoch hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle etwas mehr Tiefgang erhofft. Immer wieder lässt Kiera Cass gute Ideen aufblitzen, die sie für meine Begriffe aber nicht weit genug verfolgt. Die Vergangenheit von Ilea, das Kastensystem und die Probleme des Landes bieten eigentlich jede Menge Stoff für einen richtig guten Weltenbau, den die Autorin leider ein bisschen verschenkt.

Fans der Reihe kommen aber natürlich auf jeden Fall auf ihre Kosten und wer mal etwas abseits der düsteren Dystopien sucht, dem kann ich „Selection“ wirklich nur empfehlen.

Note: 2

 

Weberg, Liv Marit: Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich

Liv Marit Weberg CoverOriginaltitel: Jeg blir heldigvis ikke lagt merke til
Verlag:
Sauerländer
erschienen:
2015
Seiten:
224
Ausgabe:
Hardcover
ISBN:
3737351708
Übersetzung:
Hinrich Schmidt-Henkel

Klappentext:

Was macht man, wenn man zum ersten Mal alleine wohnt, aber viel zu schüchtern ist, um mit der neuen Freiheit etwas anzufangen? Anne Lise versteckt sich erfolgreich in ihrem Schneckenhaus und lässt nicht einmal ihren Freund Tore so richtig an sich heran. Bis Tore genug davon hat und sie völlig entnervt verlässt. Bis sie ihren Studienplatz verliert. Und bis ihre Eltern ihr den Unterhalt streichen. Aber so ohne weiteres gibt Anne Lise nicht auf! Kurzerhand nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand und sucht sich einen Job. Und dabei wird Anne Lise bemerkt und gegen ihren Willen kennengelernt. Zum Glück!

Rezension:

Ich bin mir nun nach einigen Stunden immer noch nicht darüber im Klaren, was ich von diesem Buch halten soll. Das kleine schmale Bändchen, das zudem noch aus vielen kurzen Kapiteln besteht, dessen Seiten auch nicht immer ganz beschrieben sind, liest sich flott in 1-2 Mittagspausen. Für mich hat es aber nicht viel mit dem Klappentext zu tun.

Anne Lise empfand ich ehrlich gesagt als überhaupt nicht schüchtern. Wenn sie denn redet und mit anderen Leuten kommuniziert, dann sagt sie eigentlich das, was ihr in den Sinn kommt und macht sich auch wenig daraus, dass sie die Leute mit ihrer Eigentümlichkeit verwirrt. Sie ist zwar nicht gern mit anderen Menschen zusammen, aber für mich stellt sich das nicht als Folge von Schüchternheit dar. Anne Lise mag einfach keine anderen Menschen. Sie ist gerne für sich und würde wahrscheinlich niemals aus ihrer Komfortzone heraus treten, wenn das Leben sie nicht dazu zwingen würde.

So wirklich sympathisch war die Protagonistin mir nicht. Sie ist mehr als nur ein bisschen seltsam und auch das Verhalten ihrer Eltern ist merkwürdig. Haben sie die ganzen Jahre über nicht bemerkt, dass ihr Kind eine schwere soziologische Störung hat? Ich meine, ich spreche hier nicht von ein bisschen erröten oder rumstottern, sondern von einer jungen Frau, die sich von Nudeln und Haferflocken ernährt, um tagelang ihre winzige Pappschachtelwohnung nicht verlassen zu müssen.

Natürlich sind Anne Lises Gedankengänge manchmal schon ziemlich witzig. Meistens sind sie allerdings nur schräg und seltsam und ich habe sie des öfteren schütteln wollen, um ihr zu sagen, sie soll diese abstrusen Gedanken abschütteln. Ich meine, sie muss ja nicht zum Partygirl mutieren. Sie kann ja durchaus der eigenbrödlerische Typ bleiben, der lieber mit sich alleine ist. Von dieser Sorte Mensch gibt es auch in der heutigen Zeit genügend. Aber Anne Lise ist so viel mehr. Sie ist gefangen in einer Welt voller abstruser Ideen und Einfälle und ich habe sie einfach nicht verstanden. Tatsächlich kann ich sogar nachvollziehen, dass die ein oder andere Nebenfigur sie für zurückgeblieben hält, denn nicht gerade selten, gibt sie ganz schön bescheuerte Antworten auf normale Fragen.

Es gibt Romane, in denen es die Autoren schaffen solche Außenseiter treffend darzustellen. Liv Marit Weberg treibt es mit ihrer Protagonistin jedoch auf die Spitze und tut sich damit keinen Gefallen. Die an sich nette kleine Geschichte über ein Mädchen, dass ihren Platz im Leben eigentlich gar nicht sucht, ihn dann am Ende aber doch ansatzweise findet, leidet an mangelhafter Glaubwürdigkeit. Ich befürchte mit so jemanden wie Anne Lise kann sich selbst der zurückgezogenste Leser kaum identifizieren.

Dennoch hat der Roman sprachlich etwas ganz Eigenes. Webergs spröde, manchmal abgehackte Sprache, passt perfekt zur Figur und zur Handlung und hat mich dann schon beeindruckt. Auch das Cover ist wunderschön und sehr auffallend, suggeriert jedoch eine Leichtigkeit, die sich zwischen den Seiten dann nicht finden lässt.

Note: 3

Cass, Kiera: Selection – Die Elite

Selection - Die Elite - CoverBand 2 Selection Serie

Originaltitel: Selection – The Elite
Verlag:
Sauerländer
erschienen:
2014
Seiten:
378
Ausgabe:
Hardcover
ISBN:
9783737362429
Übersetzung:
Susann Friedrich

Klappentext:

Von den 35 Mädchen, die um die Gunst von Prinz Maxon und die Krone von Illeá kämpfen, sind mittlerweile nur noch 6 übrig. America ist eine von ihnen, und sie ist hin- und hergerissen: Gehört ihr Herz nicht immer noch ihrer großen Liebe Aspen? Aber warum hat sich dann der charmante, gefühlvolle Prinz hineingeschlichen? America muss die schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen. Doch dann kommt es zu einem schrecklichen Vorfall, der alles ändert.

Rezension:

Der zweite Band der Selection Serie ist definitiv um einiges spannender als sein Vorgänger. Besonders im letzten Drittel überschlagen sich die Ereignisse und es gibt ein paar unvorhergesehene Wendungen. Allerdings tritt auch das ein, was ich nach dem Ende von Band 1 schon befürchtet hatte. Die Dreiecksgeschichte zwischen America, Maxon und Aspen wird zum Nervfaktor.

America kann sich nicht entscheiden und wird nicht müde, sich wie ein Fähnchen im Wind zu drehen. Mal ist Aspen ihr Anker in der intriganten Welt des Königshauses, mal bezaubert sie der feinfühlige Prinz, der allerdings auch andauernd kläglich mit dem Hintern das einreißt, was er sich vorne aufgebaut hat. Manchmal hätte ich ihn schütteln können. Einer gewissen Komik entbehrt es auch nicht, dass America sich Maxons Gefühle nicht sicher ist, weil er mit den verbliebenen Kandidatinnen ebenfalls flirtet, während er sich ihrer Gefühle nicht sicher ist, weil sie zögert und er deswegen schauen muss, ob eine andere Kandidatin nicht auch in Frage kommt. Und sie zögert, weil… ein Teufelskreis.

Dafür macht America eine wirklich erstaunliche Entwicklung durch. Sie steht für die Dinge ein, die ihr wichtig sind, ohne auf die Konsequenzen zu achten. Das bringt sie in „Die Elite“ zwar in große Schwierigkeiten und das Casting ist nicht mehr nur das hübsche Geplänkel wie zum Start der Reihe, aber es macht das Ganze auch realer und fassbarer. Einzelne Schicksale zeigen, wie hart die Welt in Illeá wirklich ist.

Es gibt auch deutlich mehr rätselhafte Angriffe der Rebellen. Es bleibt verborgen, was diese Menschen überhaupt wollen, auch wenn America vermutet, dass sie etwas im Palast suchen. Auch wenn die Angriffe heftiger werden, hätte ich mir hier allerdings ein bisschen mehr Eindrücklichkeit gewünscht. Zwar gibt es am Ende sogar mal ein paar tote Wachen oder Bedienstete, aber gefühlt, wird doch alles wieder in fünf Minuten aufgeräumt und schon geht es wieder ans Haare richten und Kleidchen anziehen. Obwohl alle bei Beginn der Überfälle immer panisch in irgendwelche Schutzkammern fliehen, nimmt die Autorin ihnen mit der lapidaren Art diese Geschehnisse danach wegzuwischen,  die Wucht. Sie verschenkt einfach unnötig dramatisches Potential. Dabei kann sie es, wie eine Schlüsselszene in der Mitte des Buches zeigt, als eine Kandidatin bestraft wird.

Am Ende gibt es dann eine Enthüllung in Bezug auf Prinz Maxon, die ich so nicht vermutet hätte, die ich leider aber auch etwas unverständlich finde. Allerdings bietet die Wendung jede Menge Zündstoff für den nächsten Band, in dem sich Americas Schicksal dann endlich entscheiden soll.

Note: 2-

Cass, Kiera: Selection

Kiera Cass Selection CoverBand 1 Selection Serie

Originaltitel: The Selection
Verlag:
Sauerländer
erschienen:
2013
Seiten:
368
Ausgabe:
Hardcover
ISBN:
3737361886
Übersetzung:
Angela Stein

Klappentext:

35 perfekte Mädchen – und eine von ihnen wird erwählt. Sie wird Prinz Maxon, den Thronfolger des Staates Illeá, heiraten. Für die hübsche America Singer ist das die Chance, aus einer niedrigen Kaste in die oberste Schicht der Gesellschaft aufzusteigen und damit ihre Familie aus der Armut zu befreien. Doch zu welchem Preis? Will sie vor den Augen des ganzen Landes mit den anderen Mädchen um die Gunst eines Prinzen konkurrieren, den sie gar nicht begehrt? Und will sie auf Aspen verzichten, ihre heimliche große Liebe?

Rezension:

Der erste Band der Selection Reihe von Kiera Cass punktet erst einmal mit einem wirklich bezaubernden Cover. Definitiv ein Eyecatcher, der im Buchladen oder in der Verlagsvorschau auffällt. Der Klappentext hingegen lässt auf eine Mischung aus „The Bacchelor“ und Zickenkrieg á la „Germanys Next Topmodel“ vermuten, doch dann ist das Buch Gott sei Dank ganz anders.

Zickenkrieg gibt es bis auf ein paar böse Blicke und die obligatorische doofe Schreckschraube (Celeste), die jedoch kaum in Erscheinung tritt, glücklicherweise nicht, wobei ich auch schon Rezensionen gelesen habe, wo dies den Lesern gerade nicht geschmeckt hat. Zu brav war ihnen der Kampf um Prinz Maxon. Mich regt unnötiges „Augenauskratzen“, welches nur das Buch auffüllen soll, immer eher auf und so war ich froh, dass der Autorin andere Dinge wichtiger waren.

Gut, America Singer ist vielleicht ein bisschen zu perfekt. Sie ist hübsch, klug und ehrlich, was sie das ein oder andere Mal in Schwierigkeiten bringt, sie aber auch authentisch wirken lässt, was nicht nur dem Volk, sondern auch dem Prinzen gut gefällt. In der oberflächlichen katzbuckelnden Welt der Adeligen, kommt jemand, der einem ziemlich deutlich die Meinung sagt, schon mal erfrischend anders vor. Dennoch übertreibt es Cass mit ihrer Protagonistin nicht. Sie ist kein ungezogenes Gör und merkt auch, wenn sie schweigen muss, weil sie sonst jemanden verletzt. Auch ihre Beweggründe, warum sie überhaupt an dieser Farce teilnimmt, sind verständlich. Garantiert sie mit ihrer Teilnahme ihrer Familie, die einer niedrigen Kaste angehört, ein besseres Leben.

Das mit den Kasten klingt tatsächlich ein bisschen nach den Distrikten aus „Die Tribute von Panem“ und es gibt sogar ein Capitol, aber mich haben ein paar kleine Ähnlichkeiten nicht gestört. America ist nicht Katniss und Illeá ist nicht Panem. Zumindest im ersten Band wirkt auch alles recht fröhlich und obwohl ich vermute, dass in den nächsten Bänden noch der Kampf mit den Rebellen an Bedeutung gewinnt, ist die Stimmung einfach eine ganz andere.

Ein bisschen Magengrummeln bescherrt mir die Dreiecksgeschichte zwischen America, Maxon und Aspen und ich hoffe, dass Kiera Cass dieses Thema nicht über Gebühr in den nächsten Bänden ausschlachten wird. Auch wenn man versucht ist, dem ärmlichen Aspen seine Stimme zu geben, kann ich ehrlich gesagt nicht viel mit ihm anfangen und der Prinz erscheint mir der interessantere Charakter zu sein. Anfang ein bisschen nervig mit seinem gestelzten unverbindlichen Getue und dem wenig männlichen Gekichere (vielleicht liegt’s aber auch an der Übersetzung?), lässt die Handlung jedoch nach und nach durchblicken, dass sich hinter dem Aushängeschild des Königshauses ein Mensch aus Fleisch und Blut verbirgt. Maxon ist mitfühlend und freundlich und er scheint nicht sehr viel von den Menschen die vor den Toren des Palastes teilweise ein karges Leben führen muss, zu wissen. Erst America öffnet ihm die Augen und seine Reaktion zeigt sehr deutlich, dass er ein gutes Herz hat.

Ja, nachdem ich eigentlich anfangs gar keine Meinung zu dem glattgebügelten Kerl hatte, begann Maxon mir doch zugefallen und ich bin mir sicher, dass in seiner Figur noch jede Menge Potential steckt. Überhaupt gilt dies auch für die ganze Handlung. „Selection“ scheint fast so eine Art Einführung in die Trilogie zu sein, denn so richtig viel passiert eigentlich nicht. Dennoch lässt sich dieses Jugendbuch so locker flockig weglesen, dass ich froh, dass ich den zweiten Band schon im Bücherregal stehen hatte und direkt weiterlesen konnte.

Note: 2-

Lindner, Lilly: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Lilly Lindner Was fehlt, wenn ich verschwunden bin Cover Verlag: Fischer
erschienen:
2015
Seiten:
400
Ausgabe:
Taschenbuch
ISBN:
9783733500931

Klappentext:

April ist fort. Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt. Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht? Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.

Rezension:

Ich entschuldige mich schon einmal vorab, für diese wahrscheinlich ausufernde Rezension, aber das liegt an Phoebe und an April und an Lilly, die mich so tief berührt haben und mir viele neue Worte für Dinge gezeigt haben, von denen ich dachte, es gäbe gar keine anderen Worte dafür.

Das Buch kann man auch für sich sehen, aber es ist durchaus hilfreich, sich vorher kurz mit der Autorin zu beschäftigen. Lilly Lindner veröffentliche 2011 mit Mitte 20 ihre Autobiographie „Splitterfasernackt“, in der sie davon erzählt, wie sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Lindner wurde magersüchtig und verkaufte sich später als Prostituierte. Das Buch war ein großer Bestseller. Nicht nur wegen des grausamen Schicksals der Autorin, sondern besonders wegen ihres literarischen Talentes, auf das ich später noch eingehen werde. Ich habe ihr Buch damals nicht gelesen, weil ich normalerweise keine Erfahrungsbücher lese, von daher ging ich vollkommen unbedarft an ihr erstes Jugendbuch heran. Nur um gestern abend nach Beenden des Romans alle ihre bisherigen Bücher zu bestellen.

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist keine leichte Lektüre. Das Thema ist traurig und es erschüttert einen um so mehr, weil Phoebe und April einem so nah sind, wie wirkliche Geschwister und weil Lilly Lindner eine Sprache hat, der man sich nicht entziehen kann. Eine Sprache, die einen lehrt, das Worte nicht einfach nur Worte sind, sondern das man sie neu verbinden kann. Immer wieder überraschen die Protagonisten mit Gedanken und Gefühlen, die noch nie jemand auf dieser Welt mit diesen Worten ausgesprochen hat und ich habe mich auf jeder Seite gefragt, wieso hat das noch nie jemand so ausgesprochen? Wieso denken nicht mehr Menschen so? Wieso findet Lilly Worte für meine Gedanken, obwohl sie sie gar nicht kennt?

Nach fünfzig Seiten habe ich aufgehört mir wunderschöne Sätze zu markieren, weil es eigentlich auf jeder Seite eine handvoll davon gab und mein Buch mittlerweile wie eine explodierte „Bibliothek der schönen Worte“ aussah.

„Ich glaube, es gibt bei Erwachsenen immer wieder Momente, in denen sie sich fragen, warum sie all die Dinge tun, die sie tun. Und dann überlegen sie ganz heftig, was sie stattdessen machen könnten. Sie kriegen Migräne. Sie nehmen Tabletten. Und am Ende machen sie dann doch das Gleiche, was sie auch schon vor dem Nachdenken getan haben. Aber wenn man vor dem Denken das Gleiche weiß wie nach dem Denken, dann ist man entweder nicht sehr klug, oder man hat unvollständig gedacht, oder in die falsche Richtung. Bei Frau Sener ist es besonders schlimm. Sie ist erst vierzig, aber sie sieht aus, als wäre sie schon neunundneunzig – das ist das Alter, das auf Brettspielen als obere Begrenzung angegeben ist. Danach ist man zu alt für Spiele, dann beginnt der Ernst des Leben.“ (S.55.)

Ich möchte vorweg nehmen, dass es in diesem Buch nicht wirklich um Magersucht geht. Die Magersucht ist ein Symptom und wird übrigens auch kaum beschrieben. Es geht viel mehr um die innere Welt von zwei Kindern, die so außergewöhnlich sind, dass ihre Eltern 24 Stunden am Tag mit ihnen überfordert sind. Es geht darum, wie Phoebe mit dem Schmerz umgeht, weil ihre Schwester monatelang fern von ihr in einem Krankenhaus lebt und um ihr Leben kämpft, während Phoebe keine Nachricht bekommt und ganz allein mit einem erstarrten Elternpaar leben muss. Es geht darum, wie April alleine mit ihren Gedanken und ihrem Schweigen in einem Krankenhausbett liegt und außer Worten, die sie für Phoebe in Briefen niederlegt, nichts mehr zu haben scheint, um diese Stille zu durchbrechen.

Ich mag eigentlich keine Briefromane, aber ich glaube ohne dieses Stilmittel hätte „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ nicht diese emotionale und literarische Wucht. Interessant ist so zudem, wie unterschiedlich die beiden Schwestern z.B. die Beziehung zu den Eltern sehen. Berührend ist es aber vor allen Dingen, wie sehr die beiden sich lieben und wie sehr sie einander brauchen. Die neunjährige Phoebe mag den meisten Leser wohl näher sein. Sie ist wie ein kleiner Kobold mit ihrem nie stillstehenden Plappermäulchen und den wie April es ausdrückt „butterkecksblonden“ Haaren. Sie trägt ihr Herz und ihren Verstand auf der Zunge und lässt sich nicht verbiegen, auch wenn ihre Eltern sie meistens nur fragend anschauen, weil sie mal wieder etwas gesagt hat, was neunjährige Kinder eigentlich nicht sagen. Tatsächlich sagt sie viele Dinge, die nicht mal Erwachsene sagen, weil diese sich längst an die gängige Norm angeglichen haben.

Ich habe das Buch in einer Leserunde bei lovelybooks gelesen und es gab dort auch einen Fragetag, wo die Autorin uns Rede und Anwort stand. Danach hatte das Buch für mich ehrlich gesagt noch eine andere Kraft als vorher, denn tatsächlich sind Phoebe und April wohl eins. Sie sind Lilly. Sie sind die beiden Wege, die Lilly Lindner hätte einschlagen können, wenn das Leben für sie anders gelaufen wäre. Sowohl im Positiven, als auch im Negativen.

Für mich ist der Roman allerdings auch ein Zeichen für ein besseres Miteinander. Mehr aufeinander achtgeben, mehr hinschauen, mehr hinhören, auch wenn eigentlich das Gegenüber gar nichts sagt. Ja, es ist wohl auch eiin Plädoyer andere Menschen so sein lassen zu dürfen, wie sie sind. Wenn ein Kind anders ist, dann ist es anders. Wenn es über die Maßen talentiert und intelligent ist, dann möchte es vielleicht nicht wie die anderen auf dem Spielplatz Ball spielen oder später Partys feiern. Deswegen sind diese Menschen nicht weniger normal, als die anderen.

Aber vielleicht gibt es ja auch gar keine hochbegabten Menschen, sondern nur ziemlich viele tiefbegabte.(S. 304).

Tatsächlich hat Lilly Lindner ein bisschen in mir das selbstbewusste Pflänzchen genährt. Ich bin vielleicht anders, aber wer hat mir eigentlich gesagt, dass ich nicht wunderbar bin? Ich glaube nicht viele Bücher können so berühren, vielleicht sogar etwas tief in einem selbst verändern. Ich bin 37 Jahre alt und ich habe sicherlich weit über tausend Bücher in meinem Leben gelesen, aber dies ist Stand heute mein absolutes Lieblingsbuch und Lilly Lindner ist für mich eine wahre Heldin. Eine Wort-Heldin!

Note: 1 (mit ganz vielen Extra-Sternchen)